Jen­seits von Schuld

Die flackern­de Ker­ze wirft ihren Schein auf das Kin­der­fo­to von Rickey Cum­mings, das mit dem Bün­del sei­ner Brie­fe auf der Kom­mo­de steht. Die rund 60 Brie­fe hat er Eve­li­ne Güde­mann aus dem Todes­trakt geschrie­ben. An die­sem nass­kal­ten Novem­ber­mor­gen sitzt sie zu Hau­se auf ihrem Medi­ta­ti­ons­kis­sen und schaut das Foto des schwar­zen Jun­gen an, der in sei­nem weis­sen Kurz­arm­hemd, den Kopf auf die Hand gestützt, in die Kame­ra lacht. Nun wirft sie einen prü­fen­den Blick auf ihre Uhr und legt die Bril­le neben das Kis­sen. Es ist Zeit. Sie kreuzt die Bei­ne, rich­tet den Ober­kör­per auf und schliesst die Augen. Seit über einem Jahr medi­tiert Eve­li­ne Güde­mann jeden Diens­tag mit ihrem Brief­freund Rickey Cum­mings. Bei ihr in Bonis­wil ist es dann 7.30 Uhr, bei Rickey Cum­mings im Staats­ge­fäng­nis Pol­un­sky Unit in Texas 00.30 Uhr. Doch das spielt kei­ne Rol­le für Rickey Cum­mings. Für ihn ist die Nacht wie der Tag in sei­ner knapp sechs Qua­drat­me­ter gros­sen Einzelzelle.

Die Schuld­fra­ge

Wäh­rend der Pan­de­mie hat Eve­li­ne Güde­mann Post­kar­ten an poli­ti­sche Gefan­ge­ne in Bela­rus geschickt. «Ich woll­te die Welt ein klei­nes biss­chen hel­ler machen», sagt die 45-Jäh­ri­ge. Auf einer Inter­net-Platt­form, die Brief­freund­schaf­ten mit Straf­ge­fan­ge­nen ver­mit­telt, hat sie das Pro­fil von Rickey Cum­mings ent­deckt. Natür­lich und ehr­lich sei ihr der Mann erschie­nen, der von sich behaup­tet, unschul­dig zum Tod ver­ur­teilt wor­den zu sein. Je bes­ser sie ihn ken­nen gelernt habe, je weni­ger habe sie sich vor­stel­len kön­nen, dass er ein Mör­der sein soll. Eine Brief­freund­schaft mit einem Men­schen zu pfle­gen, der schul­dig ist, hat sie sich damals nicht vor­stel­len kön­nen. Heu­te fragt sie: «Sind wir Men­schen nicht alle fähig, unter gewis­sen Umstän­den auf die schie­fe Bahn zu gera­ten, Din­ge zu tun, die wir sonst nie tun würden?»


In den Auf­zeich­nun­gen des Texas Depar­te­ment for Cri­mi­nal Justi­ce wird der Tat­her­gang so beschrie­ben: Am 28. März 2011 hat Rickey Cum­mings mit einem Kom­pli­zen und zwei Mit­an­ge­klag­ten auf ein Auto geschos­sen, in dem sich vier Män­ner auf­hiel­ten. Zwei Män­ner sind ihren Schuss­ver­let­zun­gen noch am Tat­ort erle­gen. Zwei wei­te­re Män­ner sind geflo­hen. Auf sei­ner Web­site erzählt Rickey Cum­mings sei­ne Ver­si­on der Geschich­te: Man­gel­haf­te Ver­tei­di­gung, ras­si­sti­sche Vor­ur­tei­le und besto­che­ne Zeu­gen haben zu sei­nem Todes­ur­teil geführt. Seit elf Jah­ren sitzt der 34-Jäh­ri­ge in Ein­zel­haft. Ohne Beschäf­ti­gung war­tet er auf den Ter­min für sei­ne Exe­ku­ti­on und hofft, dass das lau­fen­de Beru­fungs­ver­fah­ren sei­ne Unschuld vor­her bewei­sen wird.

Was Men­schen verbindet

Auf der ersten Post­kar­te, die Eve­li­ne Güde­mann vor zwei­ein­halb Jah­ren ins Gefäng­nis geschickt hat­te, waren Ber­ge abge­bil­det. «Keep fight­ing!», schrieb sie, notier­te ihre Adres­se und hoff­te auf eine Ant­wort. Einen Monat spä­ter bekam sie den ersten Brief von Rickey Cum­mings. In den rund 200 Brie­fen und Mails, die sie sich seit­her geschrie­ben haben, tau­schen sie sich aus über Bücher, die sie sich gegen­sei­tig emp­feh­len, über Poli­tik, ihre Fami­li­en, über sich und ihre Spi­ri­tua­li­tät. Auf den näch­sten Brief von Rickey Cum­mings kön­ne sie jeweils kaum war­ten, sagt Eve­li­ne Güde­mann. Sie spürt, dass es zwi­schen den Men­schen etwas gibt, das sie ver­bin­det – nichts Phy­si­ka­li­sches, eher etwas wie Licht, das selbst gröss­te Distan­zen über­win­den kann. Viel­leicht sei die­se Ver­bin­dung das, was wir Men­schen als Lie­be bezeich­nen, etwas, das hält und trägt. Rickey Cum­mings hat wäh­rend sei­ner Haft begon­nen, sich mit Sufis­mus zu beschäf­ti­gen, einer mysti­schen Strö­mung im Islam, gemein­sam haben sie dazu ein Buch gele­sen. Die Idee, zur glei­chen Zeit zu medi­tie­ren, sei von Rickey gekommen.

Ein­ge­sperrt sein

Lang­sam wird es hel­ler draus­sen. Vom Boden aus gibt das Fen­ster die Sicht frei auf Tele­fon­lei­tun­gen, die den dämm­ri­gen Him­mel zer­schnei­den. Eine Elster fliegt vom Nach­bar­dach auf und ver­schwin­det. Das alles sieht Eve­li­ne Güde­mann nicht, ihre Augen sind zu. Wenn Rickey Cum­mings aus sei­nem Fen­ster schaut, sieht er Sta­chel­draht, Elek­tro­zäu­ne und Beton­ge­bäu­de. Um hin­aus­zu­schau­en, muss er aber auf­ste­hen. Das Fen­ster sei­ner Zel­le befin­det sich zehn Zen­ti­me­ter unter der Decke. Ist etwas mehr als einen Meter lang und sie­ben­ein­halb Zen­ti­me­ter hoch. Eve­li­ne Güde­mann weiss, wie es ist, ein­ge­sperrt zu sein. Seit ihrer Jugend hat sie meh­re­re Psy­cho­sen erlebt. Sie beschreibt die­se Zustän­de so: «Vor einer Psy­cho­se erleb­te ich alles sehr inten­siv. Wenn ich trau­rig war, dann trotz­dem auch irgend­wie glück­lich, weil alles Sinn ergab. Vor mei­ner ersten Psy­cho­se hat­te ich das Gefühl, der Welt und dem Leben auf den Grund zu kom­men. Mit­ten­drin dann ist das Leben, wie ein Alp­traum im Wach­zu­stand, mit viel Todes­angst ver­bun­den. Ein­mal bin ich vor mei­nem Vater davon­ge­rannt, ich hat­te Angst, eine Berüh­rung von ihm wür­de mich umbrin­gen. Oder ich konn­te den mei­sten Men­schen nicht in die Augen schau­en, weil deren Blicke so dun­kel und bedroh­lich waren.» In sol­chen Pha­sen wur­de Eve­li­ne Güde­mann in psych­ia­tri­sche Kli­ni­ken ein­ge­lie­fert. Bei die­sen für­sor­ge­ri­schen Frei­heits­ent­zü­gen ist es auch vor­ge­kom­men, dass sie in ein Zim­mer ein­ge­schlos­sen oder an ein Bett fixiert wor­den war. Dies sei­en trau­ma­ti­sche Erfah­run­gen für sie gewesen.

Im Moment fühlt sich Eve­li­ne Güde­mann gut. Das Medi­ka­ment, das sie gegen eine erneu­te Psy­cho­se ein­nimmt, hat weni­ger Neben­wir­kun­gen als das alte. Aber spon­ta­ne Reak­tio­nen sind schwie­rig. In Gesprä­chen feh­len ihr plötz­lich die Ideen. Es füh­le sich an, als sei sie blockiert, beschreibt Eve­li­ne Güde­mann. Äus­ser­lich fällt ein­zig das Zit­tern ihrer Hän­de auf – auch eine Neben­wir­kung des Medi­ka­ments. Im Kin­der­gar­ten, wo sie zwei­mal in der Woche einen hal­ben Tag arbei­tet, haben sie die Kin­der sofort dar­auf ange­spro­chen. Über ihre Krank­heit zu reden, fällt ihr nicht schwer. Dass sie nur noch wenig arbei­ten kann, hin­ge­gen schon. Die gelern­te Fach­frau Gesund­heit und Mut­ter zwei­er erwach­se­ner Kin­der wür­de ger­ne the­ra­peu­tisch arbei­ten in der Beglei­tung von Men­schen in einer psy­chi­schen Kri­se. Aber schon die Anmel­dung, das Erstel­len eines Port­fo­li­os, kann sie momen­tan ohne Hil­fe nicht bewältigen.

Soul Sister

Rickey sei ihr zu einem lie­ben Freund, einem Ver­trau­ten – ähn­lich einem Bru­der – gewor­den. Soul Sister nennt Rickey Cum­mings sie in sei­nen Brie­fen. Sie den­ke mehr­mals am Tag an ihn, etwa wenn sie am Traum­fän­ger vor­bei­geht, den er ihr geschickt hat – ein Mit­in­sas­se hat ihn aus Schuh­bän­deln und einem Metall­ring von einer Fla­sche gefer­tigt. Der Aus­tausch mit Rickey sei für sie bei­de eine gros­se Berei­che­rung und die Ver­bin­dung mit ihm ein gros­ses Geschenk für sie. Eve­li­ne Güde­mann öff­net ihre Augen, streckt ihre Bei­ne aus und setzt ihre Bril­le wie­der auf. Es ist 8 Uhr in Bonis­wil und 1 Uhr in Texas. Für Eve­li­ne Güde­mann beginnt der Tag und für Rickey Cum­mings geht das War­ten wei­ter auf den Ter­min für sei­ne Exe­ku­ti­on und das Hof­fen, dass sei­ne Unschuld vor­her bewie­sen wird.

Eva Meienberg
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