In die Frei­heit tanzen

In die Frei­heit tanzen

Kohe­let 3,1–4Alles hat sei­ne Stun­de. Für jedes Gesche­hen unter dem Him­mel gibt es eine bestimm­te Zeit: eine Zeit zum Gebä­ren und eine Zeit zum Ster­ben, eine Zeit zum Pflan­zen und eine Zeit zum Aus­reis­sen der Pflan­zen, eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Hei­len, eine Zeit zum Nie­der­reis­sen und eine Zeit zum Bau­en, eine Zeit zum Wei­nen und eine Zeit zum Lachen, eine Zeit für die Kla­ge und eine Zeit für den Tanz.Ein­heits­über­set­zung 2016 

In die Frei­heit tanzen

Eine jun­ge Frau. Weiss geklei­det. Sie tanzt. In der Öffent­lich­keit. Auf der Stras­se. In der Hand: ein Stück Stoff. Ein Schal. Ein Tuch. Sie tanzt und plötz­lich wirft sie das Tuch ins Feu­er. Das Kopf­tuch. Den Hijab. Sie befreit sich. Tanzt sich frei. Und mit ihr unzäh­li­ge ande­re Frau­en. Denen bis­lang das Tan­zen ver­bo­ten ist. Seit mehr als 40 Jah­ren. Die sich ver­hül­len müs­sen. Damit sie unsicht­bar sind.Sel­ten hat mich eine Video­auf­nah­me so stark berührt wie der kur­ze Film, geteilt auf Twit­ter, von Frau­en im Iran in den letz­ten Wochen. Sie ste­hen auf. Vol­ler Mut. Wis­send um die Gefahr, in die sie sich bege­ben. Sie wol­len nicht mehr über sich, über ihre Kör­per, über ihr Leben bestim­men las­sen. Der Tanz und das Ver­bren­nen des Kopf­tuchs ist Sym­bol dafür, dass es zu Ende geht mit der Fremd­be­stim­mung, mit der Unter­drückung. Nach dem gewalt­sa­men Tod der Kur­din Mah­sa Ami­ni auf­grund ihrer Fest­nah­me durch die Sit­ten­po­li­zei ste­hen die Frau­en und auch Män­ner auf. Damit es ein Ende hat.Men­schen sol­len sie sel­ber sein dür­fen. Sol­len das Leben füh­ren dür­fen, das ihnen die Wür­de und den Wert lässt, die sie haben, ein­fach, weil sie Men­schen sind. Sie sol­len frei wäh­len dür­fen, wel­che Klei­dung sie tra­gen, wel­cher Beruf sie aus­füllt, wel­cher Beru­fung sie fol­gen, wel­che Lebens­form für sie die rich­ti­ge ist. Egal, ob Mann oder Frau, gleich wel­cher Reli­gi­on, wel­cher sexu­el­len Ori­en­tie­rung. Es gibt kei­nen Grund, irgend­ei­nen Men­schen abzu­wer­ten. Jeman­dem zu ver­weh­ren, das Leben zu füh­ren, das ihm oder ihr ent­spricht.Zu oft müs­sen Men­schen immer noch ertra­gen, dass das nicht so ist. Zu oft sich recht­fer­ti­gen, weil sie Erwar­tun­gen nicht ent­spre­chen. Und immer wie­der auch flüch­ten aus Län­dern, in denen es lebens­ge­fähr­lich ist, nicht den Kon­ven­tio­nen zu ent­spre­chen. Wie auch im Iran.Auch die hei­li­ge Ursu­la ent­sprach – zumin­dest in der Legen­de –nicht den Erwar­tun­gen und Kon­ven­tio­nen ihrer Umwelt. Der Königs­sohn, der sie unbe­dingt hei­ra­ten woll­te, ent­sprach nicht den Vor­stel­lun­gen ihres Vaters, aber Ursu­la war doch zur Hoch­zeit bereit – zu ihren Bedin­gun­gen. Und mach­te sich erst ein­mal auf ihren eige­nen Weg nach Rom, zu den Wur­zeln ihren Glau­bens, und wie­der zurück – mit ihren Beglei­te­rin­nen – ver­mut­lich eher elf als elf­tau­send. Sie nahm sich die Frei­heit, das zu tun, was ihr ent­sprach. Und auch ihre drei Beglei­te­rin­nen, die sich vor dem ange­kün­dig­ten Mar­ty­ri­um fürch­te­ten und unter­wegs ihren eige­nen Weg gin­gen: Chrisch­o­na, Mar­ga­re­the und Odi­lia. Sie such­ten sich ihre eige­nen Orte, an denen sie auf ihre Wei­se ihre Beru­fung leben konn­ten. Und die­se Orte tra­gen heu­te noch ihre Namen. Sicht­bar geblie­ben sind sie auf die­se Wei­se.Men­schen schaf­fen sich Raum. Frei­raum. Fol­gen ihrem Weg, blei­ben in der Spur. Um immer mehr sie sel­ber zu wer­den, als die zu leben, als die Gott sie gewollt hat. Immer schon. Und manch­mal tan­zen sie in die Frei­heit. Wenn die Zeit zum Ster­ben, zum Nie­der­reis­sen, zum Wei­nen und zum Kla­gen ein Ende hat.Doro­thee Becker, Theo­lo­gin und Seel­sor­ge­rin. Gemein­de­lei­te­rin der Pfar­rei St. Fran­zis­kus, Riehen-Bettingen    
Christian von Arx
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