In der Stil­le spürst du dei­nen Seelengrund

In der Stil­le spürst du dei­nen Seelengrund

Mat­thä­us 11,28–30Kommt alle zu mir, die ihr müh­se­lig und bela­den seid! Ich will euch erquicken. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Her­zen demü­tig; und ihr wer­det Ruhe fin­den für eure See­le. Denn mein Joch ist sanft und mei­ne Last ist leicht.Ein­heits­über­set­zung 2016 

In der Stil­le spürst du dei­nen Seelengrund

Es ist noch gar nicht so lan­ge her, da hat man Leu­te, die in Zügen und auf Stras­sen Kopf­hö­rer tru­gen, belä­chelt. Sie wol­len sich qua­si «zumau­ern», in ihrer eige­nen Welt leben – so hat man über sie gedacht. Heu­te tra­ge auch ich manch­mal Kopf­hö­rer, ver­schlies­se mei­ne Ohren mit Stöp­seln, weil es laut ist, sehr laut. Was allen so zuge­mu­tet wird an Tele­fon­ge­sprä­chen, sehr lau­ten Unter­hal­tun­gen, Auto­lärm, Musik­be­rie­se­lung und Wer­bung! Die auf uns ein­pras­seln­den Nach­rich­ten las­sen uns von einer Auf­regt­heit zur näch­sten rei­ten. Wir sind alle sehr beschäf­tigt. Die Pro­ble­me wach­sen uns über den Kopf.Kürz­lich rei­ste ich mit einer befreun­de­ten enga­gier­ten Fami­lie und eini­gen Men­schen mit Beein­träch­ti­gung wie­der ein­mal nach Tai­zé. Alle ver­ste­hen es, alle schei­nen damit ein­ver­stan­den zu sein, dass in der Gemein­schaft mit den Brü­dern von Tai­zé wäh­rend drei Gebe­ten am Tag Stil­le mög­lich wird. Das schafft einen Raum, in dem wäh­rend Minu­ten Tau­sen­de von jun­gen und älte­ren Men­schen in der Stil­le ver­blei­ben. Manch­mal hört man nur einen Vogel sin­gen, oder man spürt einen Hauch Küh­lung durch die offe­ne Kir­chen­tür. Alle sind da, mit ihren Fra­gen, Zwei­feln, Pro­ble­men und Hoff­nun­gen, wohl auch Ver­zweif­lung. Jeder und jede hat Platz auf dem Boden, auf Cam­ping­stüh­len und Trep­pen­stu­fen. Die äus­se­re Stil­le, die Beru­fung der Brü­der­ge­mein­schaft zu Ein­fach­heit, Offen­heit und Gast­freund­schaft, all das lässt einen die eige­ne Inner­lich­keit, den «See­len­grund» spü­ren. In sol­chen Momen­ten ist der Grund des eige­nen Seins zu spü­ren. Alle dür­fen da sein, jeder und jede hat Platz, man oder frau wird nicht in Fra­ge gestellt. Kei­ne Kri­tik, kein grim­mi­ger Blick, kei­ne abwer­ten­de Bemer­kung …In die­ser Stil­le lässt sich atmen. Ja, Freu­de kehrt ein, Freu­de trotz allem. Mir kommt die Bit­te aus einem Gebet in den Sinn: «Barm­her­zi­ger Gott, dei­ne Lie­be ist ohne Mass und ohne Ende. Jeden und jede von uns hast du gewollt und auf den Weg zum Leben geru­fen. Unser Herz hast du ange­rührt, dass wir dei­ne Stim­me hören und ver­ste­hen, dich suchen und fin­den und in dir bleiben.»Schon im 12. Jahr­hun­dert, zu Leb­zei­ten der seli­gen Grä­fin Stil­la von Aben­berg, hun­ger­ten die Men­schen nach Stil­le, und sie haben das wohl schon immer getan. Der Vor­na­me der ade­li­gen Dame drückt ihre Beru­fung aus: Stil­la, ein Wort aus dem Alt­hoch­deut­schen, das Stil­le und Ruhe bedeu­tet. Wegen ihrer Zurück­ge­zo­gen­heit mit ihren Schwe­stern mag man sie wohl so genannt haben, auch wegen ihrer Hin­ga­be­fä­hig­keit an die Bedürf­ti­gen. Bald nach ihrem Tod pil­ger­ten die Men­schen mit ihren Lasten zu ihr.Und wei­ter in der Zeit zurück: Ein bibli­scher Text, der in die­sen Tagen oft gele­sen wird. «Kommt alle zu mir, die ihr müh­se­lig und bela­den seid! Ich will euch erquicken… denn ich bin gütig und von Her­zen demü­tig; und ihr wer­det Ruhe fin­den für eure See­le» (Mat­thä­us 11,28ff). Ange­sichts der Schlicht­heit und Zuge­wandt­heit Jesu ver­mö­gen wir uns zu öff­nen und die sel­ten gewor­de­nen stil­len Momen­te zu suchen und zu fin­den. Das wün­sche ich von Her­zen.Anna-Marie Fürst, Theo­lo­gin, lang­jäh­ri­ge Gefäng­nis­seel­sor­ge­rin, frei­wil­li­ge Seel­sor­ge­rin in der Pre­di­ger­kir­che Zürich
Regula Vogt-Kohler
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