«In der Kathe­dra­le flies­sen vie­le Tränen»

«In der Kathe­dra­le flies­sen vie­le Tränen»

«In der Kathe­dra­le flies­sen vie­le Tränen»

Josef Schö­nau­er berich­tet von sei­nen Erleb­nis­sen in der Pil­ger­seel­sor­ge in Sant­ia­go de Compostela

Wer Hun­der­te Kilo­me­ter nach Sant­ia­go de Com­po­ste­la gepil­gert ist, wird bei der Ankunft nicht ste­hen gelas­sen. Für deutsch­spra­chi­ge Pil­ge­rin­nen und Pil­ger gibt es eine eige­ne Seel­sor­ge. Der St. Gal­ler Josef Schö­nau­er hat hier als erster Schwei­zer wäh­rend zwei­er Wochen im Mai die­ses Jah­res mit­ge­ar­bei­tet. Wer in Sant­ia­go ankommt, been­det das Unter­wegs-Sein. Kommt es bei der Ankunft zu Tränen?Josef Schö­nau­er: Ja, ich habe vie­le Men­schen wei­nen sehen. Ich nen­ne des­halb den Platz vor der Kathe­dra­le den «Platz der Trä­nen und Umar­mun­gen». Auch in der Kathe­dra­le flies­sen vie­le Trä­nen, eben­so beim Pil­ger­bü­ro. Dort rol­len die Trä­nen meist erst, wenn die Ankömm­lin­ge das Pil­ger­bü­ro ver­las­sen.Draus­sen umar­men sie ihre Freun­din­nen und Freun­de noch­mals. Das kann sehr emo­tio­nal sein. Es sind Trä­nen der Freu­de über die Ankunft, der Trau­er über das Ende einer schö­nen Zeit, Abschieds­trä­nen von lieb gewon­ne­nen Leu­ten, Trä­nen über auf­bre­chen­de Emo­tio­nen.Sie haben bei der deutsch­spra­chi­gen Pil­ger­seel­sor­ge mit­ge­ar­bei­tet. Braucht es eine eige­ne Seel­sor­ge für Pil­ger? Als ich vor 30 Jah­ren das erste Mal nach Sant­ia­go kam, dach­te ich, es brau­che einen Ort, an dem die ankom­men­den Pil­ger auf­ge­fan­gen wer­den. Ins­be­son­de­re jene, die allei­ne pil­gern, ste­hen dann auf ein­mal etwas ver­lo­ren da, wie bestellt und nicht abge­holt. Die Idee der Pil­ger­seel­sor­ge ist, dass Men­schen, die ein beglei­ten­des Ange­bot suchen, das auch fin­den.Eines die­ser Ange­bo­te besteht in einer Aus­tausch­run­de. Wie gut ist sie besucht?Im Mai kamen nahe­zu täg­lich zwi­schen zwei und zehn Per­so­nen. Sie woll­ten ihre Erfah­run­gen tei­len. Vie­le sind Mehr­fach­pil­ger und stel­len fest, dass sie das Erleb­te nicht mit den Daheim­ge­blie­be­nen tei­len kön­nen, weil die gemein­sa­me Basis fehlt.Was erzäh­len die Ankömm­lin­ge in die­sen Runden?Es gibt Pil­ger, die ein­fach nur strah­len vor Glück. Man­chen tut es gut, jeman­dem sagen zu kön­nen, wie anstren­gend es war oder dies von ande­ren zu hören. Eine Frau erzähl­te, wie sie auf dem Platz vor der Kathe­dra­le ankam und sich frag­te: «Und jetzt?» Im Gespräch stell­te sich her­aus, dass das auch ihrer Lebens­si­tua­ti­on ent­sprach. Sie hat­te die Aus­bil­dung abge­schlos­sen und stand vor der Fra­ge, was sie jetzt mit ihrem Leben machen sol­le. Es gibt oft sol­che Par­al­le­len zwi­schen Pil­ger- und Lebens­weg.Wie­der­ho­len sich die­se Geschich­ten nicht immer wieder?Ja, aber ich höre ger­ne zu. Schwie­rig wird es für mich ledig­lich, wenn sie sich dar­über bekla­gen, dass sie nicht die ein­zi­gen auf dem Jakobs­weg waren. Dahin­ter steckt wohl das Bedürf­nis nach dem Ere­mi­ti­schen, nach Ruhe und Ein­sam­keit. Das ist sicher­lich auch ein Teil des Pil­gerns. Aber die Begeg­nun­gen sind ein wesent­li­cher Teil des Jakobs­wegs. Per­sön­lich fin­de ich es sehr schön, dass auch ande­re die­sen Weg gehen.Wür­den Sie Men­schen, die die Ein­sam­keit suchen, also eher ande­re Wege empfehlen?Ja, der Schwei­zer Jakobs­weg ist bei­spiels­wei­se weni­ger began­gen. Auch wenn man von Genf nach Le Puy läuft, trifft man nicht so vie­le Menschen. 
Josef Schö­nau­er ist sel­ber pas­sio­nier­ter Pil­ger.
| © zVg
Was erfah­ren die Ankömm­lin­ge beim spi­ri­tu­el­len Rundgang?Die Leu­te von der Pil­ger­seel­sor­ge zei­gen die Kathe­dra­le von aus­sen, erklä­ren die Sym­bo­lik der Muschel und die Geschich­te des Hei­li­gen Jako­bus. An die­sen Rund­gän­gen neh­men bis zu 50 Per­so­nen täg­lich teil, und sie hören sehr auf­merk­sam zu. Man­che sagen, so vie­le Hin­ter­grün­de zum Jakobs­weg hät­ten sie auf dem gan­zen Weg noch nicht gehört.Pil­ger suchen Ihrer Ansicht nach Ein­fach­heit, Ent­schleu­ni­gung und Ursprüng­lich­keit. Das fin­det man auch auf einer Berg­tour durch die Schweiz. Was ist der Unterschied?Für vie­le ist der spi­ri­tu­el­le Aspekt eben­falls wich­tig. Natür­lich kann ich auch im Alp­stein über mein Leben nach­den­ken. Aber auf dem Jakobs­weg weiss ich, dass ich Leu­te tref­fe, die auch über ihr Leben nach­den­ken. Für vie­le Men­schen, die auf der Suche sind, sind die­se oft tie­fen Gesprä­che hilf­reich.Kön­nen Sie ein Bei­spiel nennen?Ein Lebens­mit­tel­in­ge­nieur erzähl­te mir, in sei­nem Beruf ler­ne man, ande­re Men­schen zu betrü­gen. Auf dem Jakobs­weg ist ihm sehr bewusst gewor­den, dass er das in sei­nem Leben nicht mehr möch­te. Unter­wegs hat er vie­le schö­ne Cafés ange­trof­fen. Nun möch­te er sich selbst­stän­dig machen und ein sol­ches Café eröff­nen. Die­se Sicher­heit hat er im Gespräch mit sich selbst und mit ande­ren gewon­nen. Inter­view: Syl­via Stam, kath.chJosef Schö­nau­er (66) wohnt in St. Gal­len. Er betreibt auf pri­va­ter Basis die Web­site www.pilgern.ch, ist Prä­si­dent des Ver­eins Pil­ger­her­ber­ge St. Gal­len. Schö­nau­er war über 20 Jah­re Spi­tal­seel­sor­ger im Kan­tons­spi­tal St.Gallen. Er kam vor 30 Jah­ren erst­mals mit einer Jugend­grup­pe in Sant­ia­go de Com­po­ste­la an und hat seit­her vie­le Grup­pen dahin beglei­tet. 
Redaktion Lichtblick
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