«Ich versuche, nicht scheu zu sein»
Wenn Besuch kommt, legt Elisabete Silva ein extra Brikett ins Feuer.
Bild: © Gerry Amstutz

«Ich versuche, nicht scheu zu sein»

Eine Geschichte von Armut in der Schweiz.

Die Aargauerin Elisabete Silva macht alles, um mit ihren Kindern selbstbestimmt leben zu können. Den Gang zum Sozialamt will sie unbedingt vermeiden.

Braucht es für Sie Über­win­dung über Ihre finanziell prekäre Sit­u­a­tion zu sprechen?
Elis­a­bete Sil­va: Jein. Ab und zu schon.

Warum weinen Sie?
Ich habe Sor­gen, weil ich meinen Kindern kein schöneres Leben bieten kann. Ver­gan­genen Herb­st hat­te meine Tochter keine Hosen mehr. Wir hat­ten nicht genug Geld, um neue zu kaufen.

Mit wieviel Geld im Monat müssen Sie über die Run­den kom­men?
Ich habe keinen fix­en Monat­slohn. Mein Jahre­seinkom­men beläuft sich auf 25 000 bis 30 000 Franken plus Ali­mente und Kindergeld. Seit ein paar Jahren habe ich ein Bud­get. In ein­er Tabelle liste ich haar­ge­nau alle Ein­nah­men und Aus­gaben auf. Ich weiss genau, wann welche Rech­nun­gen kom­men. Zum Glück habe ich keine Schulden und werde mich hüten, welche zu machen. Was wir uns nicht leis­ten kön­nen, kaufen wir nicht.

Die Werkzeuge hat sie von ihrem Vater geerbt. Bilder © Ger­ry Amstutz

Was arbeit­en Sie?
Ich arbeite an ver­schiede­nen Orten im Stun­den­lohn: In einem Lager, wo ich auch Büroar­beit mache. Dann putze ich an ver­schiede­nen Orten und arbeite auch im Gast­gewerbe. Zu Hause ste­ht eine Stick­mas­chine, mit der ich selb­ständig Aufträge aus­führe. Was es auch immer zu tun gibt, mache ich. Ich bin mir zum Schaf­fen nicht zu schade.

Warum haben Sie keine feste Stelle?
Mir sind meine Kinder sehr wichtig. Ich will nicht jeman­den dafür bezahlen, dass er auf meine Kinder schaut. Das will ich selb­st machen und für sie da sein. Meine Kinder sind jet­zt zehn und zwölf Jahre alt. Es bleiben noch unge­fähr zehn Jahre, während deren ich für sie schauen muss. In dieser Zeit stecke ich zurück, damit ich ihnen etwas bieten kann. Es ist mein Ziel, in diesem Jahr nur noch eine oder höch­stens zwei Arbeitsstellen zu haben. Am lieb­sten hätte ich einen fix­en Lohn, damit ich weiss, wieviel am Ende des Monats aufs Kon­to kommt.

Welche Aus­bil­dung haben Sie gemacht?
Ich bin Auto­mechanikerin und habe den Mil­itär­di­enst absolviert. Dann habe ich für die Schweiz­er Armee im Aus­land Dienst geleis­tet. Ich habe eine Mod­e­schule besucht und Schnittmuster zeich­nen gel­ernt. Ausser­dem habe ich eine Han­delss­chule besucht.

Sie haben eine grosse handw­erk­liche Begabung. Die Küche, in der wir sitzen, haben Sie selb­st mon­tiert. Wo haben Sie das gel­ernt?
Ich bin auf dem Land gross gewor­den. Wir durften vieles selb­st machen. Mein Vater war Handw­erk­er, von ihm habe ich viel gel­ernt. Als er vor über zehn Jahren ver­starb, habe ich sein Werkzeug geerbt. Im Moment ren­oviere ich die Kinderz­im­mer. Aus einem mache ich zwei. Das kostet mich rund tausend Franken. Würde ich das machen lassen, wür­den 10 000 Franken nicht reichen.

Seit wann sind Sie in dieser prekären Sit­u­a­tion?
Seit der Tren­nung von meinem Mann vor drei Jahren. Bere­its vorher hat­ten wir ein ein­fach­es Leben mit seinem Handw­erk­er­lohn. Aber jet­zt ist es finanziell schwierig.

Fam­i­lien unter Druck

Viele Fam­i­lien mit Kindern ste­hen in der Schweiz finanziell unter Druck. Dies bele­gen ver­schiedene Sta­tis­tiken und Stu­di­en. Die finanzielle Belas­tung von Fam­i­lien ist umso höher, je klein­er die Kinder sind.

In der Schweiz sind 6.1 % der kinder­losen Paare, 15.1 % der Paare mit Kindern unter 3 Jahren und 25 % der Allein­erziehen­den von Armut betrof­fen. Das Fam­i­lien­barom­e­ter 2024 von Pro Famil­ia zeigt zudem: Bei vier von zehn Fam­i­lien bee­in­flussen Kosten den Entscheid, keine weit­eren Kinder zu kriegen.

Hilfe von der Caritas

Noch nie sucht­en so viele Men­schen eine der Sozial­ber­atungsstellen der Car­i­tas Aar­gau auf wie im Jahr 2023: In den 9 von Car­i­tas Aar­gau geführten Kirch­lichen Regionalen Sozial­dien­sten KRSD wur­den 2023 ins­ge­samt 3584 hil­fe­suchende Per­so­n­en berat­en. In den Kan­to­nen Basel-Land­schaft und Basel-Stadt fan­den 2024 ins­ge­samt 3011 Gespräche und Kon­tak­te statt in den KRSD Birstal und Frenke-Ergolz, in Arzt­prax­en und auf der öku­menis­chen ­Sozial­ber­atung an der Geschäftsstelle der Car­i­tas bei­der Basel.

Ken­nen Sie andere Men­schen, mit denen Sie über die Armut sprechen?
Ich kenne welche, aber die meis­ten sprechen nicht über ihre Sit­u­a­tion. Ich betreue seit einem hal­ben Jahr einen Kühlschrank, in den Men­schen Lebens­mit­tel leg­en, damit andere sie abholen kön­nen. Dabei habe ich viele Men­schen ken­nen­gel­ernt, die von Armut betrof­fen sind.

Wür­den Sie gerne öfter darüber sprechen?
Nicht unbe­d­ingt, aber ich wün­sche mir, dass man in der Schweiz zur Ken­nt­nis nimmt, dass es nicht allen Men­schen gut geht. Wir kön­nen zwar Sozial­hil­fe beziehen, aber je nach Kan­ton muss man diese zurück­zahlen. Das ist bei uns im Kan­ton Aar­gau der Fall. Zum Glück schaffe ich es ohne Sozial­hil­fe. Wir wohnen in einem Haus, für das ich weniger als 500 Franken Zins und Amor­ti­sa­tion­skosten pro Monat bezahle. Gin­ge ich zum Sozialamt, hätte ich Angst, mein Haus und damit viel Frei­heit zu ver­lieren.

Das heisst aber auch, dass Sie deswe­gen von eini­gen Hil­f­sange­boten nicht prof­i­tieren kön­nen.
Ja. Von den Lebens­mit­teltaschen von «Tis­chlein deck dich» kann ich zum Beispiel nicht prof­i­tieren. Aber ich bekomme andere Unter­stützung: Meine Nach­barin bringt mir etwa gün­stige Kos­meti­ka aus Deutsch­land mit, oder mein Fre­und füllt mir ab und zu meinen Kühlschrank.

Wie reagiert Ihr Umfeld auf Ihre prekäre finanzielle Sit­u­a­tion?
Ich habe nicht das Gefühl, dass man mich hier im Dorf deswe­gen anders behan­delt. Viele ken­nen meine Sit­u­a­tion gar nicht. Ich habe schon vorher das Holz für die Heizung selb­st gefräst. Einige merken vielle­icht, dass ich weniger da bin, dass ich viel mehr arbeite.

Wie kom­men Sie zu dem, was Sie brauchen?
Ich ver­suche, nicht zu scheu zu sein, um zu fra­gen. Und ich suche Lösun­gen, durch die ich und andere gle­icher­massen prof­i­tieren. Dafür muss ich aber Kom­pro­misse einge­hen.

Sor­gen Sie sich manch­mal auch um Ihr eigenes Woh­lerge­hen?
Ich mache mir keine Sor­gen um mich, ich nehme es ein­fach, wie es ist. Ich bin eine sehr selb­ständi­ge Frau und tough. Ich suche immer eine Lösung. Eben habe ich eine gefun­den, wie ich die 3000 Franken für die Musikschule für meine Kinder weit­er­hin bezahlen kann.

Wie ist Ihnen das gelun­gen?
Ich habe viele Anträge geschrieben und viele Absagen bekom­men. Aber mit einem Beitrag von der Kirche, ein­er weit­eren Insti­tu­tion und mit Hil­fe der einen Gross­mut­ter sowie meinem Ver­di­enst kön­nen meine Kinder nun weit­er­hin die Musikschule besuchen.

Ihr Leben tönt nach Dauerbeschäf­ti­gung, haben Sie auch Zeit für sich?
Ich bin ein aktiv­er Men­sch. Hätte ich Freizeit, würde ich biken gehen oder wan­dern oder mehr für den 3D-Druck­er kon­stru­ieren. Neu werde ich jew­eils jeden zweit­en Mittwochnach­mit­tag Men­schen bei ihren admin­is­tra­tiv­en Auf­gaben unter­stützen: For­mu­la­re aus­füllen, Briefe schreiben, Woh­nung suchen. Das mache ich sehr gerne.

Ver­di­enen Sie dabei etwas?
Nein, das mache ich unent­geltlich.

Machen Sie manch­mal Ferien?
Ich komme ursprünglich aus Por­tu­gal, wo meine Mut­ter lebt. Wir besuchen sie jeden Som­mer. Seit ich mit den Kindern allein bin, kann ich mir die Reise nicht mehr leis­ten. Damit wir den­noch gehen kön­nen, leg­en wir zusam­men. Mein Ex-Mann, mein Fre­und und ich gehen gemein­sam mit den Kindern. Wir sehen meine Mut­ter, und mein Ex-Mann kann gün­stig wohnen.

Wie geht es Ihren Kindern mit der prekären finanziellen Sit­u­a­tion?
Die Kinder wis­sen Bescheid. Wir besprechen alles gemein­sam. Schauen gemein­sam die Rech­nun­gen an. Sie ken­nen den Koste­nun­ter­schied, wenn sie mit den ÖV oder mit dem Auto nach Würen­lin­gen in den Sportkurs fahren. Sie wis­sen, dass ich viel für sie mache. Meine Kinder leis­ten auch selb­st ihren Beitrag. Mein Sohn mäht zum Bespiel bei der Nach­barin den Rasen, und momen­tan macht er die Aus­bil­dung zum Verkehrskadet­ten, um an den Woch­enen­den etwas zu ver­di­enen. Den näch­sten Sport­tag woll­ten bei­de selb­st finanzieren und haben die 20 Franken von ihrem Sack­geld bezahlt.

Wenn Sie einen Wun­sch frei hät­ten, was wür­den Sie sich wün­schen?
Einen fix­en Monat­slohn. Mit allem anderen kann ich leben.

Eva Meienberg
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