«Ich habe mei­nen Glau­ben in Ausch­witz gelassen»
Shlomo Graber mit seinem Buch: «Dreimal dem Tod entkommen»
Bild: © Anouk Hiedl

«Ich habe mei­nen Glau­ben in Ausch­witz gelassen»

Der Gedenktag zur Befreiung von Auschwitz jährt sich zum 80. Mal

Shlomo Graber (98) gehört zu den letzten Menschen in der Schweiz, die den Holocaust miterlebt haben. Als Jugendlicher überlebte er drei Konzentrationslager und einen Todesmarsch. Ein Jahrhundertzeuge erzählt von Macht, Erniedrigung und dem Kampf ums Überleben.

Es ist ein kal­ter Janu­ar­mor­gen. Graue Wol­ken tau­chen Basel in ein mat­tes Licht. In der Spa­len­vor­stadt laden die Aus­la­gen der klei­nen Geschäf­te und Bou­ti­quen ein, genau­er hin­zu­se­hen. Im Schau­fen­ster einer Gale­rie liegt zwi­schen Bil­dern, Glas­kunst und Schmuck ein Buch: «Drei­mal dem Tod ent­kom­men» von Shlo­mo Gra­ber. Wer den Zei­tungs­ar­ti­kel liest, der an der Ein­gangs­tür hängt, erfährt mehr. 1926 gebo­ren, wächst der Autor jüdisch-ortho­dox in einem unga­ri­schen Dorf auf. Der Zwei­te Welt­krieg scheint erst weit weg. Nach der Beset­zung Ungarns durch die Nazis wird Shlo­mo, damals 17, 1944 mit sei­ner Fami­lie nach Ausch­witz deportiert.

Myr­tha Hun­zi­ker und Shlo­mo Gra­ber in der Gale­rie Spa­len­tor in Basel

Eine Vier­tel­stun­de spä­ter sit­ze ich Shlo­mo Gra­ber und sei­ner Lebens­part­ne­rin Myr­tha Hun­zi­ker inmit­ten sei­ner schwung­voll gemal­ten, fröh­lich-bun­ten Bil­der in der Gale­rie gegen­über. Seit 36 Jah­ren lebt Shlo­mo als Kunst­ma­ler und Autor in Basel. Sei­ne bald 99 Jah­re merkt man ihm nicht an. Sei­ne blau­en Augen blicken klar und auf­merk­sam. Wenn er spricht, lächelt er oft. Ab und an winkt er Pas­san­ten zu und fin­det, der Mann, der draus­sen die Weih­nachts­de­ko­ra­ti­on abmon­tiert, sol­le doch zum Kaf­fee her­ein­kom­men. Dann beginnt er ohne wei­te­re Umschwei­fe zu erzählen.

Depor­ta­ti­on

Shlo­mo Gra­ber wird mit sei­nen Eltern, Geschwi­stern, einem Cou­sin und einer Gross­mutter am 25. Mai 1944 nach Ausch­witz depor­tiert. «Unter­wegs waren wir mit etwa 70 wei­te­ren Men­schen ein­ge­pfercht. Wir teil­ten uns zwei Eimer, einen mit Trink­was­ser und einen für die Not­durft.» Spä­ter habe er erfah­ren, dass aus sei­ner Gegend täg­lich vier Züge los­fuh­ren, jeder mit 3000 bis 3500 Men­schen. Beim Aus­stei­gen erhal­ten sie die Wei­sung, nichts mit­neh­men zu dür­fen. «Ein alter Mann drück­te sei­nen Beu­tel mit Gebets­man­tel und ‑rie­men an sich. Ein SS-Mann riss ihm die Sachen aus der Hand und schmiss sie vor die Zugs­rä­der.» Für den 17-jäh­ri­gen Shlo­mo ist es unfass­bar, dass kei­ne Ant­wort des Him­mels folgt.

Bei der dar­auf­fol­gen­den Selek­ti­on «stand ich dem Dämo­nen­kö­nig Asch­me­dai gegen­über. Er sah aus wie ein gewöhn­li­cher Mensch. Und doch ent­schied er mit einem Fin­ger­zeig über unser Schick­sal.» Shlo­mo und sein Vater wer­den nach links diri­giert, die rest­li­chen Ver­wand­ten nach rechts. Für die bei­den Män­ner bedeu­tet dies Zwangs­ar­beit, für die ande­ren den Tod. Noch heu­te sieht Shlo­mo Gra­ber, wie die Fami­lie aus sei­nem Blick ent­schwin­det. «Ich konn­te mich nicht mehr von mei­ner Mut­ter, von ihnen allen, ver­ab­schie­den», sagt er schlicht. Sein Lächeln ist ver­siegt. Das nage noch immer, bestä­tigt Myr­tha Hun­zi­ker und legt lie­be­voll ihre Hand auf sei­nen Arm.

Shlo­mo und sein Vater blei­ben zusam­men. In einer Baracke, der «Sau­na», müs­sen sie sich aus­zie­hen. «Wir wur­den rasiert, des­in­fi­ziert, und man schor uns einen Strei­fen von der Stirn bis zum Nacken, die soge­nann­te Läu­se­stras­se.» Erwach­se­ne und ehr­wür­di­ge Men­schen in der demü­ti­gen­den Häft­lings­klei­dung zu sehen, sei nicht leicht gewesen.

Zwangs­ar­beit und Hunger

Vater und Sohn wer­den ins schle­si­sche Lager Fünf­tei­chen ver­legt. Dort arbei­ten sie für die deut­sche Waf­fen­in­du­strie. «Als Lasten­trä­ger muss­ten wir alle Arbei­ten im Lauf­schritt erle­di­gen. Von Bewa­chern mit Peit­sche und Pisto­le ange­trie­ben, hiev­ten wir ren­nend einen Zement­sack nach dem andern vom Güter­zug zur Bau­stel­le.» Shlo­mo muss auch Eisen­roh­re schlep­pen und Beton mischen. Als er ein­mal über­an­strengt inne­hält, stösst ihn ein SS-Mann kur­zer­hand in den Beton­brei. «Ich sank tie­fer und tie­fer. Die Mas­se reich­te mir schon bis zur Brust, als es mei­nem Vater und ein paar Kame­ra­den noch gelang, mich her­aus­zu­zie­hen.» Nicht alle hat­ten die­ses Glück.

Histo­ri­sches Bild des Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers Gör­litz © Gama­r­aal Foundation

Einen Monat spä­ter wer­den sie ins Lager Gör­litz trans­fe­riert. Ein­mal muss Shlo­mo gesam­mel­te, kalk­be­streu­te Lei­chen auf Kar­ren laden. Man­che der Toten kennt er. Die stän­di­gen Appel­le sind für Shlo­mo das Schlimm­ste. Immer wie­der müs­sen die Lager­in­sas­sen antre­ten, etwa wenn jemand Essen gestoh­len hat. Dar­auf steht meist der Tod. Der Hun­ger ist all­ge­gen­wär­tig. «Wir assen alles, Kar­tof­fel­scha­len, Grä­ser, Wild­pflan­zen, selbst Wür­mer, die manch­mal in unse­ren Ratio­nen waren.» Shlo­mo beginnt, Schwei­ne­fut­ter zu klau­en. Dazu taucht er sei­nen Blech­tel­ler durch den Sta­chel­draht in den Fut­ter­trog, isst sich voll und bringt auch sei­nem Vater eine Por­ti­on. «Ich wuss­te, wenn mich der Sol­dat auf dem Wach­turm bemerkt, schiesst er. Doch wenn er ein Schwein trifft, kriegt er Pro­ble­me.» Als Shlo­mo ein­mal zwei Eier ergat­tert, die er nachts ver­steckt mit sei­nem Vater isst, meint die­ser dazu: «Du kochst bes­ser als dei­ne Mutter.»

Über­le­bens­wil­le

Shlo­mo und sein Vater machen es sich zur Losung, leben zu wol­len. «Wir beschlos­sen, nicht mehr von Hun­ger zu spre­chen, um weni­ger hung­rig zu sein.» Doch der jun­ge Mann magert schnell ab. Als SS-Män­ner bei einem Appell alle fürs Kre­ma­to­ri­um aus­son­dern, die unter 30 Kilo wie­gen, ist auch Shlo­mo dabei. «Als ich mein Todes­ur­teil hör­te, über­mann­te mich eine völ­li­ge Gleich­gül­tig­keit. So bräuch­te ich wenig­stens nicht mehr zu lei­den.» Vor dem Weg­trans­port sieht Shlo­mo im Lager einen alten Ober­feld­we­bel, der einen Tisch auf dem Rücken trägt. «Ich ergriff ein Tisch­bein und folg­te ihm. Es sah aus, als ob ich hel­fe, und ich kam in die Küche der Deut­schen.» Dort hilft ihm ein jüdi­scher Koch, wie­der zu Kräf­ten zu kom­men. Shlo­mo gewinnt auch das Ver­trau­en des alten Ober­feld­we­bels, der für den Küchen­pro­vi­ant zustän­dig ist, und erholt sich lang­sam. «Als mich mein Vater beim Appell einen Monat spä­ter wie­der­sah, fiel er vor Über­ra­schung fast um.»

Mit­te Febru­ar 1945, als die Rote Armee die Stadt Gör­litz bela­gert, wird das Lager geräumt. Die ent­kräf­te­ten Häft­lin­ge wer­den auf einen wochen­lan­gen Todes­marsch Rich­tung Tirol geschickt, der mit dem Rück­marsch nach Gör­litz endet. Von 1500 Häft­lin­gen über­le­ben 500. Unter ihnen Shlo­mo und sein Vater.

Neu­an­fang und Rückblick

Als Shlo­mo dem alten Ober­feld­we­bel am 2. Mai 1945 das Früh­stück ser­viert, bringt ein Sol­dat per Motor­rad eine Zei­tung. Auf dem Titel­blatt Hit­lers Foto, dar­un­ter die Schlag­zei­le: «Der Füh­rer ist tot!» Shlo­mo lässt das Kaf­fee­ta­blett fal­len, rennt ins Lager und schreit immer wie­der: «Wir sind frei!» Die Häft­lin­ge kön­nen es nicht glau­ben, sein Vater etwa meint dazu nur: «Das hat mir noch gefehlt.»

Shlo­mo Gra­ber mit 22 Jah­ren © Gama­r­aal Foundation

Die Deut­schen ver­las­sen das Lager noch am glei­chen Tag. Die Häft­lin­ge ver­schan­zen sich, da draus­sen noch Schüs­se und Bom­ben fal­len. Als die Rus­sen am 8. Mai ankom­men, lau­fen alle hin­aus. «Ich habe den ersten umarmt und geküsst und seit lan­gem wie­der geweint. Kurz dar­auf leg­ten wir unse­re ver­lau­sten Häft­lings­klei­der ab und ver­brann­ten sie.» Shlo­mo muss sich wie­der dar­an gewöh­nen, frei zu sein. Zu glau­ben, was gesche­hen ist, sei nicht selbst­ver­ständ­lich gewe­sen. Das Trau­ma wiegt schwer. Von dem, was nach der Befrei­ung pas­sier­te, habe er Eini­ges vergessen.

1982 begann Shlo­mo Gra­ber sei­ne Erleb­nis­se nie­der­zu­schrei­ben. Dazu habe er drei Jah­re gebraucht. «Wenn from­me Juden sagen, etwas sei Got­tes Wil­le, dann macht mich das ver­rückt.» Sei­nen Glau­ben habe er in Ausch­witz gelas­sen. Heu­te sei er kein Athe­ist und kein Gläu­bi­ger und weder für noch gegen eine bestimm­te Reli­gi­on. Er pre­di­ge nicht, sage aber sei­ne Mei­nung. Noch immer lässt sich Shlo­mo Gra­ber gern für Vor­trä­ge ein­la­den, auch von Schu­len. «Doch ich lebe nicht mit dem Holo­caust. War­um soll ich trau­rig sein, wenn es fröh­lich sein kann. Schau­en Sie mei­ne Kunst an.»

Erst­pu­bli­ka­ti­on im «pfarr­blatt» Bern.

Anouk Hiedl
mehr zum Autor
nach
soben