«Ich bin ein Kämpfertyp»
- Anfang Oktober ist das neuste Werk von Pierre Stutz erschienen.
- Es ist die Autobiografie eines der bekanntesten spirituellen Lehrers im deutschsprachigen Raum.
- In «Wie ich der wurde, den ich mag» erzählt er über sein Leben in der katholischen Kirche.
Pierre Stutz wurde 1953 in Hägglingen geboren. Im Alter von sechs Jahren wurde er von einem unbekannten Mann missbraucht. Über die Tat sprach er mit niemandem, verdrängte sie. Er wurde Novize in einem Orden, den er vier Jahre später verliess, um Theologie zu studieren. Nach seiner Priesterweihe 1985 arbeitete Pierre Stutz erst als Jugendseelsorger im Fricktal, danach als Bundesleiter des Jugendverbandes Junge Gemeinde in Zürich.
Krise und Coming-out
Doch sein Körper rebellierte zunehmend. Durch einen Traum und mit psychologischer Hilfe stiess er auf seinen Missbrauch. Das führte zu einem Zusammenbruch. Während seiner Auszeit in der Abbaye de Fontaine-André in Neuchâtel bei seinen ehemaligen Mitbrüdern half ihm das Schreiben. Er vertiefte sich in die Mystik und wagte eine Buchveröffentlichung. Eine Radiosendung brachte ein grosses Echo, es folgten Anfragen zu Besinnungstagen und Kursen. Pierre Stutz verzeichnete Erfolge als Autor, Referent und Mitbegründer eines offenen Klosters. Gleichzeitig wurde sein Wunsch immer stärker, eine Partnerschaft zu leben. Am 5. Juli 2002 gab er an einer Pressekonferenz seinen Rücktritt vom offenen Kloster sowie seine Homosexualität bekannt. Seit 2003 ist Pierre Stutz und Harald Wess ein Paar. Die beiden haben 2018 geheiratet. Seit seiner Pensionierung lebt Pierre Stutz in Osnabrück. Béatrice Eigenmann vom Pfarrblatt forumKirche hat ihn zur Veröffentlichung seiner Autobiografie befragt.
Was hat Sie dazu bewogen, nach den spirituellen Büchern Ihre Autobiografie zu verfassen?
Einerseits kam die Anfrage des Verlages im Hinblick auf meinen 70. Geburtstag, andererseits wurde ich durch die vielen Zoom-Meetings für die Vorbereitungen zu #OutInChurch [Verein von LGBTIQ+-Personen, die Mitglied der römisch-katholischen Kirche sind; Anm. d. Red.] von vielen jungen Menschen gebeten, meine Geschichte aufzuschreiben. Ich liess mir ein Jahr lang Zeit, um die Antwort zu geben, weil ich befürchtete, dass dies ein sehr schmerzhafter Prozess sein könnte. Aber ich möchte andere ermutigen. Die offizielle Lehre der katholischen Kirche ist noch immer menschenverachtend.
Was bedeutet Ihnen das Schreiben?
Bis zu meinem Burn-out habe ich es verdrängt. Schreiben bedeutet mir sehr viel, es ist mein Gebet, meine Therapie. Es ist ein Zurechtfinden mit der Welt, persönlich und sozialpolitisch. Damit überlasse ich die Regie nicht der Angst, sondern der Hoffnung. Es ist nie zu spät für Veränderung.
Was raten Sie jungen Menschen, die merken, dass sie anders als die anderen sind?
Ich ermutige sie, sich Unterstützung zu holen und es nicht in sich hineinzufressen wie ich. Es ist unsere Aufgabe, vor allem den Jungen zu sagen: Du bist geborgen und gesegnet von göttlicher Kraft.
Sie bezeichnen sich als «verzweifelt katholisch». Was bedeutet das?
Bereits an der Synode von 1972 kamen alle Themen auf den Tisch, die an der Weltsynode im Oktober diskutiert werden. Immer hiess es, es brauche Zeit und Geduld. Die Zeit der Geduld ist vorbei. Es braucht ein Frauenpriestertum, denn Gott ist nicht Mann geworden, sondern Mensch. Ich trete bewusst nicht aus der Kirche aus, denn ich bin ein Kämpfertyp und will die katholische Kirche nicht den Hardlinern überlassen.
Buchvorstellung in Luzern
Am 29. Oktober stellt Pierre Stutz sein Buch im Kirchensaal MaiHof vor. Moderiert wird der Anlass von Meinrad Furrer und Mirjam Furrer von der Peterskapelle in Luzern. Es ist keine Anmeldung nötig.
Pierre Stutz, «Wie ich der wurde, den ich mag», Verlag bene!, ISBN 978–3‑96340–245‑6
Sie schreiben, dass mindestens ein Drittel der Priester und Bischöfe schwul sind. Woher haben Sie diese Zahl?
Sie geht auf meine Erfahrungen und Untersuchungen zurück. Ich kenne sehr viele Priester, die immer noch leiden und Angst haben vor einem Outing. Ich will sie unterstützen, damit sie zu sich stehen. #OutInChurch hat gezeigt, dass Priester auch nach ihrem Coming-out weiterhin Priester sein können.
Weshalb finden sich so viele Homosexuelle in der katholischen Kirche?
Spiritualität hat wie Kunst mit Sensibilität zu tun. Die offiziellen Texte aus Rom sind sehr homophob. Ich denke, dass es homosexuelle Männer sind, die ihre eigene Neigung dahinter bekämpfen. Gerade deshalb müsste die Kirche anders umgehen damit. Es ist eine Verlogenheit, auch für die Priester, die im Geheimen eine Partnerin haben.
Was müsste sich Ihrer Meinung nach im System Kirche ändern, damit es solche Schicksale wie das Ihre nicht mehr gibt?
Die Kirche muss ihre monarchische Struktur endlich aufgeben, weil Jesus keine Zwei-Stände-Kirche mit Klerikern und Laien will. Sie soll ein Ort sein, in dem Menschen in ihrer Vielfalt willkommen sind und selbstgerechte Intoleranz nicht geduldet wird.
*Das Interview ist erstmals in forumKirche erschienen, dem Pfarreiblatt der Bistumskantone Schaffhausen und Thurgau.