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Im Glauben Neues gestalten
Religionsgemeinschaften können wie starre, festgefahrene Systeme wirken. Doch immer wieder gibt es Menschen, die mutig neue Denkansätze wagen – darauf möchte der Herbert Haag Preis aufmerksam machen. Wir stellen den Preis und die diesjährigen Preisträger/innen vor. Michel Bollag, dem Preisträger aus der Schweiz, haben wir zu seinem Fachgebiet, dem interreligiösen Dialog, befragt.
Kurzinfo zum Herbert Haag Preis
Wer verleiht den Preis?
Verliehen wird er von der «Herbert Haag Stiftung für die Freiheit in der Kirche». Der Schweizer Theologieprofessor Herbert Haag, der viele Jahre in Tübingen lehrte, gründete sie 1985 aus der Überzeugung heraus, dass die Kirche in einer Strukturkrise steckt, die zwangsläufig die Freiheit der Gläubigen einschränkt. Die Herbert Haag Stiftung könne diese Freiheit nicht direkt verwirklichen, aber sie möchte zumindest ein Zeichen dafür setzen.
Und warum?
Die Stiftung sieht sich im Dienst eines «aufgeschlossenen und ökumenisch gesinnten katholischen Glaubens». Sie verleiht Anerkennungspreise an Menschen und Organisationen weltweit, die sich durch offene Meinungsäusserung oder mutiges Handeln hervorgetan haben

Dina El Omari, Edith Petschnigg und Michel Bollag (v.l.n.r.) sind die Preisträger/innen des diesjährigen Herbert-Haag-Preises. | Bild: ©Uni Münster – Heiner Witte/zVg/zVg
Dina El Omari
Promovierte und habilitierte Islamwissenschaftlerin und Professorin für interkulturelle Religionspädagogik am Zentrum für Islamische Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster
El Omari beschäftigt sich neben ihrer Forschung und Lehre der interkulturellen und interreligiösen Phänomene und Sichtweisen mit der Auslegung des Korans. Ihr Hauptaugenmerkt liegt dabei auf einem geschlechtergerechten Zugang zum Koran. Sie untersucht den Entstehungskontext der Texte und macht so veraltete Traditionen und politisch-kulturelle Einflüsse auf das Verständnis des Glaubens sichtbar. El Omari deckt die patriarchalen Strukturen in den Texten auf, ordnet sie zunächst historisch ein und deutet sie dann aus einer geschlechtergerechten Perspektive neu. Sie setzt sich dafür ein, dass der Religionsunterricht auf Gleichberechtigung ausgerichtet ist – besonders, weil viele Moscheen noch stark von patriarchalen Strukturen geprägt sind. Der Religionsunterricht spielt für sie eine wichtige Rolle, weil Mädchen dort gemeinsam mit ihren Lehrkräften über die Religion und über das, was sie zuhause und in der Moschee hören, reflektieren können.
El Omari ist ausserdem politische Beraterin, zum Beispiel für das Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration in Nordrhein-Westfalen, und gehört zum Gesprächskreis «Christlich-islamischer Dialog» des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.
Edith Petschnigg
Professorin für Katholische Religion an der Privaten Pädagogischen Hochschule Augustinum in Graz, ehemalige Professorin im Fachbereich Bibelwissenschaft an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems, Verantwortliche für die Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften auf der Primar- und Sekundarstufe.
Der Forschungsfokus von Petschnigg liegt auf den Themen Interreligiosität und Bibeldidaktik, also der Disziplin, die sich mit der Vermittlung biblischer Inhalte im Bildungsbereich auseinandersetzt. Petschnigg arbeitet dabei in besonderer Weise heraus, welche Rolle die Bibel für die Persönlichkeitsbildung und die Fähigkeit, schwierige Situationen zu bewältigen, spielen kann. Sie möchte, dass den Schülerinnen und Schülern das «Lebenskompetenzen stärkende Potenzial der Bibel zugänglich» gemacht wird.
Der interreligiöse Dialog spielte für sie schon immer eine wichtige Rolle und seit 2014 engagiert sich Petschnigg im jüdisch-christlichen Dialog. Auch an der Dialoginitiative «Religiöse Diskurse in westlichen Demokratien» ist sie beteiligt, bei der die christlich-jüdische Studienwoche ins Gespräch mit dem Islam geht. Ausserdem ist sie Vorstandsmitglied im Grazer Komitee für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Sie war Mitverantwortliche für die Studie «Hat der jüdisch-christliche Dialog Zukunft? Gegenwärtige Aspekte und zukünftige Perspektiven in Mitteleuropa».
Michel Bollag
Gründer und Dozent am Zürcher Institut für interreligiösen Dialog
1994 gründete Bollag, der in Israel eine Jeschiwa, eine Talmudschule mit national-orthodoxer Ausrichtung, besucht und später in der Schweiz Pädagogik studiert hatte, gemeinsam mit dem reformierten Pfarrer Martin Kunz das Zürcher Lehrhaus, in dem er neben der Co-Leitung auch die Fachverantwortung für das Judentum übernahm und christliche Lernende in Althebräisch und Thora-Auslegungen unterrichtete. Durch das Zürcher Lehrhaus bekam der jüdisch-christliche Dialog eine neue Qualität, denn nun ging es nicht mehr nur darum, auf akademischer Ebene über das Judentum zu sprechen, sondern Christen/innen und Jüdinnen/Juden begegneten sich als Subjekte und diskutierten miteinander. 2004 initiierte Bollag, dass mit Rifa’at Lenzin eine Vertreterin des Islam am Lehrhaus unterrichtete. Später bekam das Haus daher seinen aktuellen Namen «Zürcher Institut für interreligiösen Dialog».
Michel Bollag im Interview
Wann haben Sie begonnen, sich mit dem Thema «interreligiöser Dialog» zu beschäftigen und warum?
Zu Beginn der 1980er-Jahre arbeitete ich als Leiter für den Religionsunterricht der israelitischen Kultusgemeinde, die damals von Sigi Feigel, einem bekannten jüdischen Politiker, präsidiert wurde. Er strebte eine Politik der Aufklärung an, denn er war der Überzeugung, dass es dadurch zu einem besseren Verständnis des Judentums kommen und der Antisemitismus zurückgehen würde. Begonnen hat alles unter anderem mit Synagogenführungen und Einladungen in Konfirmationsgruppen und Schulklassen. In dieser Zeit habe ich den reformierten Pfarrer Martin Kunz kennengelernt. Er suchte jüdische Menschen, die mit ihm gemeinsam in Kirchgemeinden Vorträge halten würden. So haben wir begonnen uns gemeinsam zu engagieren. Aus dieser Zusammenarbeit entstand dann die Idee für das Lehrhaus.
Warum sind Sie gut im Führen des interreligiösen Dialogs?
Das ist eine Frage der Kommunikationsfähigkeit und des Enthusiasmus. Wenn wir etwas gerne tun und dazu noch auf die Leute zugehen und uns wirklich auf den Dialog einlassen können, sind das gute Voraussetzungen.
Was ist unabdingbar, damit der interreligiöse Dialog gelingen kann?
Es muss auf Augenhöhe miteinander gesprochen werden. Unabdingbar ist die Überzeugung, dass keine Religion die absolute Wahrheit besitzt, sondern, dass jede ein Weg hin zur Wahrheit ist. Für den Dialog ist das die Voraussetzung und gleichzeitig auch eine Bereicherung, die er bieten kann.
Kann denn jeder Mensch den interreligiösen Dialog führen?
Wenn ein Mensch andere Identitäten als Gefahr für seine eigene ansieht, dann kann er es nicht. Ängste und Voreingenommenheit verunmöglichen einen Dialog. Es braucht eine gewisse Neugier für den Dialogpartner.
Daran anschliessend: Gibt es Regeln für den interreligiösen Dialog?
Die wichtigste Regel ist der Respekt vor dem Gesprächspartner. Notwendig ist auch, dass die Teilnehmenden zuhören können und bereit sind, etwas zu lernen. Meiner Meinung nach bedarf es ausserdem eines Grundwissens über die Religion. Und das sehe ich heute, unter anderem durch die Gewichtung in den Lehrplänen, gefährdet.
In welchen Situationen nehmen Sie den interreligiösen Dialog als besonders herausfordernd wahr?
In der Situation, in der wir uns seit dem 7. Oktober 2023 befinden. Seitdem ist der Dialog sehr problematisch geworden. Ich merke, dass man verstummt, dass man sprachlos ist. Ich glaube, der Dialog wird wieder aufgenommen werden, nur ist es im Moment schwierig auszumachen, wo man an- und einsetzen kann. Im Vorfeld der Preisverleihung habe ich mich mit dem Thema auseinandergesetzt, und ich glaube, man muss den Schwerpunkt wieder vermehrt auf Gott statt auf den Menschen setzen. Aus jüdischer Perspektive gesprochen heisst das: Wir befinden uns in einem existenziellen Krieg. Es geht, wie so häufig in unserer Geschichte, um die nackte Existenz. Und gleichzeitig dürfen wir uns nicht von den niedrigen Instinkten leiten lassen. Die Tora hält zum Kampf gegen diese niederen Instinkte an. Das Gebot, den Fremden nicht zu unterdrücken, ihn zu lieben – das ist ja nichts Natürliches. Auf diese gemeinsame Basis muss man sich stellen, wenn man in den Dialog geht. Für ein Volk, das erlitten hat, was wir erlitten haben, ist es schwer aus diesem Trauma eine positive Kraft zu ziehen. Aber meiner Meinung nach ist das trotzdem ein Weg, den man gehen muss.
Wann brechen Sie einen Dialog ab?
Ich würde einen Dialog dort abbrechen, wo antisemitische Parolen oder Einstellungen im Spiel sind. Möglicherweise äussert sich das Gegenüber nicht einmal bewusst antisemitisch, aber ich spüre das. Und da würde ich sagen: «Auf so eine Debatte kann ich nicht eingehen».
Wie verändert sich der interreligiöse Dialog in einer zunehmend säkularisierten Welt?
Grundsätzlich wird er als irrelevant wahrgenommen. Wenn sich in der säkularisierten Welt dann solche Konflikte äussern, wird er nicht mehr nur als irrelevant angesehen, sondern sogar als störend. Gleichzeitig ist aber das Zürcher Institut für Interreligiösen Dialog gerade sehr präsent und die Menschen interessieren sich für seine Veranstaltungen.
Ihre Nachfolgerinnen am Zürcher Institut für Interreligiösen Dialog sprechen lieber vom «weltanschaulichen Dialog». Was denken Sie darüber?
Erstens zeigt es die Dynamik dieses Instituts. Man legt ein Augenmerk darauf, was man machen muss, um relevant zu bleiben. Zweitens sind ja auch nicht nur Religionen im klassischen Sinne im Dialog, sondern es gibt auch verschiedene säkulare und andere religiöse Weltanschauungen. Und diese miteinander ins Gespräch zu bringen, das war schon immer ein Anliegen der Institution. Man muss auch mit der säkularen Welt dialogisieren.