«Was für Geschichten!»

«Was für Geschichten!»

  • Abge­sagte Senioren­nach­mit­tage liessen Rita Brüg­ger und Chris­tine Seil­er kreativ wer­den. Sie grif­f­en zum Tele­fon und lern­ten alte Bekan­nte ganz neu ken­nen.
  • Die bei­den Frauen führten Inter­views mit den Senior­in­nen und Senioren und schrieben ihre Lebens­geschicht­en auf.
  • Im daraus ent­stande­nen Heft steckt Schönes und Schw­eres, aber vor allem Dankbarkeit für das gelebte Leben.

Rita Brüg­ger und Chris­tine Seil­er sind seit 30 Jahren Nach­barin­nen. Ihre bei­den Balkone tren­nt ein niedriges Mäucherchen, über das sie manch­mal steigen, wenn sie es eilig haben. Doch auch grössere Hür­den über­winden die bei­den Frauen gemein­sam. Zum Glück, denn seit dem let­zten Früh­ling stellte ihnen die Pan­demie immer wieder Hin­dernisse in den Weg.

Nichts tun war keine Option

Seit mehr als zehn Jahren bewirten die bei­den Frauen die Besucherin­nen und Besuch­er des Senioren­nach­mit­tags. Der gesel­lige Anlass wird von der reformierten und der katholis­chen Kirchge­meinde organ­isiert und find­et ein­mal im Monat in der öku­menis­chen Johanneskirche in Arni statt. Etwa 30 Senior­in­nen und Senioren aus den umliegen­den Gemein­den fan­den regelmäs­sig den Weg nach Arni. Neben dem the­ma­tis­chen Teil vor allem auch, um gemein­sam zu essen, zu sin­gen und zu plaud­ern. Bis Coro­na kam.

Um den Kon­takt zu den alten Men­schen den­noch zu hal­ten, ver­schick­ten Chris­tine Seil­er und Rita Brüg­ger Briefe. Wenn jemand Geburt­stag hat­te, gin­gen sie per­sön­lich grat­ulieren. Vor Wei­h­nacht­en bastel­ten sie kleine Päck­li und bracht­en jedem eine Schachtel mit täglichen Adventsüber­raschun­gen vor­bei. «Wir woll­ten nicht ein­fach abwarten», sagt Chris­tine Seil­er, «einige unser­er Senioren sind über 90 Jahre alt. In diesem Alter ist Zeit noch wertvoller.»

Einfach und genial

Im let­zten Som­mer schafften es die zwei erfind­erischen Frauen, dass sich die Senior­in­nen und Senioren in kleinen Grup­pen tre­f­fen konnnten. Rita Brüg­ger erin­nert sich: «Wir sprachen über die Schulzeit. Im kleinen Rah­men ergaben sich inten­si­vere Gespräche als bei den früheren Tre­f­fen.»

Durch diese Erfahrung inspiri­ert und angeregt vom Buch «Damals im Freiamt», hat­ten Rita Brüg­ger und Chris­tine Seil­er eine so ein­fache wie geniale Idee. «Wir beschlossen, die regelmäs­si­gen Besuch­er zu inter­viewen und ihre Lebens­geschicht­en aufzuschreiben», erk­lärt Rita Brüg­ger. Damit jede und jed­er die Biogra­phie der anderen lesen kann.

Fragen als Leitfaden

Die Seel­sorg­er Clau­dio Gabriel, Reto Stud­er und Georg Umbricht erk­lärten sich bere­it, mitzuhelfen. So fragten sie bei den einzel­nen Frauen und Män­nern an, ob sie bere­it wären, über ihr Leben Auskun­ft zu geben. Die grosse Mehrheit willigte ein. Chris­tine Seil­er über­legte sich Fra­gen, die als Leit­faden für die Gespräche dien­ten. «Wie sind Sie aufgewach­sen?», «Was war wertvoll in ihrem Leben?» oder «Was kön­nen Sie jun­gen Leuten mit­geben?» lauteten einige der Fra­gen.

Endlich Zeit für gute Gespräche

Die Gespräche führten sie per Tele­fon. Und hat­ten endlich ein­mal Zeit, richtig mit den Leuten zu reden, die sie ja schon seit ein­er Weile kan­nten. Was sie erfuhren, hat Chris­tine Seil­er und Rita Brüg­ger beein­druckt. Der Titel des Hefts «Was für Geschicht­en» bringt die Freude über den faszinieren­den Schatz an Geschicht­en auf den Punkt. Rita Brüg­ger fasst zusam­men: «Trotz teil­weise schw­er­er Schick­sale kam in den Gesprächen viel Dankbarkeit zum Aus­druck.»

Das Büch­lein macht auch klar, dass die Gen­er­a­tion der über 80-Jähri­gen mit Krieg und Mobil­machung eine prä­gende Krise wie die Coro­n­a­pan­demie schon erlebt hat. Eine der Senior­in­nen ist in der Zwis­chen­zeit gestor­ben, doch Chris­tine Seil­er hat ihre Sätze noch in den Ohren: «Ich war ein glück­lich­es Kind. Und jet­zt bin ich eine glück­liche alte Frau.»

Marie-Christine Andres Schürch
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