Gna­den­strah­len im grau­en Alltag

Gna­den­strah­len im grau­en Alltag

Mar­kus  4,37–39Plötz­lich erhob sich ein hef­ti­ger Wir­bel­sturm und die Wel­len schlu­gen in das Boot, sodass es sich mit Was­ser zu fül­len begann. Er aber lag hin­ten im Boot […] und schlief. Sie weck­ten ihn und rie­fen: Mei­ster, küm­mert es dich nicht, dass wir zugrun­de gehen? Da stand er auf, droh­te dem Wind und sag­te zu dem See: Schweig, sei still! Und der Wind leg­te sich und es trat völ­li­ge Stil­le ein.Ein­heits­über­set­zung 2016 

Gna­den­strah­len im grau­en Alltag

Es gibt Räu­me, die klein, für sich genom­men, exi­stie­ren und gleich­zei­tig weit sind und immer grös­ser wer­den, sich über Euro­pa hin­aus in die wei­te Welt aus­deh­nen. Die­se Räu­me kön­nen grenz­über­schrei­tend erfah­ren wer­den. Dann kann es sein, dass man in der Mut­ter Ljud­mi­la Nawal­na­ja am Polar­kreis an eine Skulp­tur des Michel­an­ge­lo namens “Pie­tà” in Rom erin­nert wird, obwohl man sie zwi­schen­zeit­lich ver­ges­sen hat­te. Ljud­mi­la Nawal­na­ja such­te, wie Maria – die Mut­ter Jesu, die von der Skulp­tur in Rom dar­ge­stellt wird –  und wie vie­le Müt­ter, ihre jun­gen, geschun­de­nen, ermor­de­ten Söh­ne in der Ukrai­ne und in Russ­land, in Isra­el und Gaza, um nur eini­ge Tei­le der Erde zu nen­nen, um zu trau­ern und Abschied neh­men zu kön­nen. Wir sind in der wei­ten Welt und spü­ren manch­mal das Stöh­nen der Men­schen, wel­che durch ihren Mut und ihre Lebens­hin­ga­be im Kampf um Gerech­tig­keit und Frei­heit ihr Leben ver­lie­ren.Sze­ne­wech­sel in die klei­ne Welt eines Dor­fes: Ich, grau­haa­rig, stieg in einen Bus und eine jun­ge Frau mit Kopf­tuch und ihr klei­nes Mäd­chen stan­den auf, um mir ihren Platz anzu­bie­ten. Es berühr­te mich, weil ich es nicht erwar­te­te. Beim Umstei­gen in den näch­sten Bus über­rasch­te mich eine Sze­ne, die ich nicht so schnell ver­ges­sen wer­de: Ein jun­ger Mann mit einer Beein­träch­ti­gung half einer Mut­ter mit Kin­der­wa­gen aus dem Bus aus­zu­stei­gen und drück­te den Knopf, damit die Bus­tü­re sich ja nicht schloss. Er war ganz dabei, innigst, strah­lend, gedul­dig. Auch für mich drück­te er den Knopf von aus­sen noch ein­mal, damit ich noch in den sel­ben Bus ein­stei­gen und mich in Ruhe hin­set­zen konn­te. Die­se bei­den Gege­ben­hei­ten ereig­ne­ten sich inner­halb von fünf Minu­ten. Die Haupt­per­so­nen waren die­se jun­ge Mus­li­ma mit ihrem klei­nen, süs­sen Mäd­chen und der jun­ge Mann mit Beein­träch­ti­gung. Ihr Han­deln fiel wie ein Licht­strahl in die­se gewöhn­li­che Situa­ti­on hin­ein. Waren nicht die­se zwei Men­schen im Bus von Wär­me und Zuge­wandt­heit erfüllt?Und manch­mal ist gar nichts. Es herr­schen Lan­ge­wei­le, Kämp­fen um die besten und bequem­sten Plät­ze und vor allem Gleich­gül­tig­keit.Emi­lie Schnei­der beschrieb 1857 in einem Brief einen Raum in der Josephs­ka­pel­le des The­re­si­en­hos­pi­tals. Ihre Spra­che ist die einer reli­giö­sen und sozi­al enga­gier­ten Frau aus dem 19. Jahr­hun­dert: «Die Strah­len ver­brei­te­ten sich in einem Augen­blick über alle und teil­ten sich ihnen […] mit. […] Auch ich hat­te Anteil an den Gna­den­strah­len mei­nes gelieb­ten Hei­lan­des […] mein Herz wur­de von einer so gros­sen Glut ent­zün­det.  […] Das strah­len­de und wär­men­de Licht», so beschrieb sie, teil­te sich nicht nur ihr, son­dern allen mit. Die­se beson­de­re Frau hat­te einen Blick fürs Gan­ze. Emi­lie Schnei­der hin­ter­liess fol­gen­des Gebet: «Du mein guter Herr und Mei­ster! Wer woll­te sich dei­ner eben­so wei­sen wie lie­be­vol­len Lei­tung nicht ganz über­las­sen? Ist doch der allein in voll­kom­me­ner Sicher­heit, selbst auf dem vom Sturm beweg­ten Meer; denn auf dein Wort legt sich der Sturm und gros­se Stil­le tritt ein.»Wir mögen in die­sen beweg­ten, stür­mi­schen Zei­ten auf sein Wort hin Räu­me der Stil­le und war­me, zuge­wand­te Mensch­lich­keit erfah­ren und dank­bar wei­ter­ge­ben.Anna-Marie Fürst, Theo­lo­gin lang­jäh­ri­ge Gefäng­nis­seel­sor­ge­rin Seel­sor­ge­rin im Pasto­ral­raum Gösgen
Leonie Wollensack
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