Glau­be lebt nicht vom Kopf allein

Kri­sen und Ver­än­de­run­gen, Krank­heit oder Ver­lust­er­leb­nis­se: Es gibt Situa­tio­nen, die Men­schen nicht sel­ber bewäl­ti­gen wol­len und kön­nen. Clau­dia Men­nen, Clau­dia Not­hel­fer und Susan­ne Andrea Bir­ke lei­ten das Bil­dungs- und Bera­tungs­an­ge­bot «Wege zum Leben» der Fach­stel­le Bil­dung und Prop­stei der Aar­gau­er Lan­des­kir­che. Was unter­schei­det die­ses in katho­li­schen Kon­text ein­ge­bet­te­te Ange­bot von den vie­len ande­ren Beglei­tungs­mög­lich­kei­ten? Wel­che Rol­le spie­len Gott und die Reli­gi­on bei der Bewäl­ti­gung von Kri­sen? Im Inter­view erklä­ren die drei viel­sei­ti­gen Theo­lo­gin­nen, was die Weg­be­glei­tung aus­zeich­net, wen sie anspricht und war­um der Kör­per eine wich­ti­ge Rol­le spielt. Seit wann besteht das Ange­bot der Weg­be­glei­tung und wie ent­wickelt es sich? Clau­dia Men­nen: Begon­nen haben die Wege zum Leben mit der Kon­tem­pla­ti­on, die Clau­dia Not­hel­fer ange­bo­ten hat. Ich wuss­te schon da, dass ich in die­sem Bil­dungs­haus einen spi­ri­tu­el­len Schwer­punkt set­zen möch­te, denn die Men­schen möch­ten nicht nur wis­sen, son­dern auch erfah­ren. Spe­zi­ell an unse­rem Ange­bot ist, dass es nie­der­schwel­lig ist und auch für Men­schen mit kör­per­li­chen und see­li­schen Ein­schrän­kun­gen zugäng­lich ist. Unse­re Kur­se haben eine sta­bi­le Teil­neh­mer­schaft, es gibt sowohl Leu­te, die immer wie­der kom­men, als auch stets neue Inter­es­sier­te. Weil Susan­ne Andrea Bir­ke und Clau­dia Not­hel­fer auch in den Pfar­rei­en prä­sent sind, fin­den von dort immer wie­der Men­schen den Weg in die Prop­stei zur Weg­be­glei­tung.Wel­che Men­schen besu­chen die Weg­be­glei­tung? Clau­dia Not­hel­fer: Es kom­men Men­schen in die Beglei­tung, die in einer schwie­ri­gen Lebens­si­tua­ti­on sind. Sie sind durch­aus spi­ri­tu­el­le, gläu­bi­ge Men­schen, sie suchen ein offe­nes Ohr, aber auch Ori­en­tie­rung und Neu­aus­rich­tung. Die mei­sten sind in ihrer Pfar­rei aktiv. Ich füh­re vor allem Ein­zel­ge­sprä­che, meist ist die Beglei­tung kurz- bis mit­tel­fri­stig. Es gibt aber auch Leu­te, die nur ein ein­zel­nes Gespräch wün­schen und ande­re, die über einen län­ge­ren Zeit­raum immer wie­der kom­men. Im Moment nut­zen fünf Per­so­nen die­ses Ange­bot bei mir. Clau­dia Men­nen: Es gibt auch die­je­ni­gen, denen ein Got­tes­dienst in der Pfar­rei nicht genug Nah­rung gibt und die tie­fe­re reli­giö­se Erfah­run­gen suchen. Clau­dia Not­hel­fer: Immer wie­der fra­gen mich Leu­te, wie sie beten sol­len, weil die übli­chen Gebe­te für sie nicht mehr stim­men. Da bie­te ich ihnen zum Bei­spiel die Form der Stil­le an, das schwei­gen­de Gebet. Susan­ne Andrea Bir­ke: Ein­zel­be­glei­tung war von Beginn an Teil mei­ner Arbeit. Mit dem Bereich «Wege zum Leben» ver­stärk­te sich die­ser Fokus. Auf­grund mei­nes Schwer­punk­tes «Frau­en und Gen­der» sind es über­wie­gend Frau­en, die zu mir kom­men. Seit den Segens­fei­ern für gleich­ge­schlecht­lich Lie­ben­de und Ange­hö­ri­ge sind es ver­mehrt auch Men­schen aus die­sen Per­so­nen­grup­pen. Mit einem sehr wei­ten Spek­trum – von ganz Kir­chen­ver­bun­de­nen, die viel Herz­blut und Lie­be in die­se Kir­che inve­stie­ren, bis hin zu sol­chen, die sich schon lang von ihr ver­ab­schie­det haben. Auch die The­men sind sehr unter­schied­lich. Allen gemein­sam ist aber sicher, dass es um einen tie­fe­ren Sinn im Leben geht.Vie­le der Kur­se von Bil­dung und Prop­stei – etwa Shi­ba­shi oder Jin Shin Jyutsu — ori­en­tie­ren sich an Ent­span­nungs- und Medi­ta­ti­ons­tech­ni­ken aus ande­ren Kul­tur­krei­sen und ande­ren Reli­gio­nen. Wie geht das mit der katho­li­schen Tra­di­ti­on zusam­men? Susan­ne Andrea Bir­ke: Shi­ba­shi wur­de via Fasten­op­fer über phil­ip­pi­ni­sche Ordens­schwe­stern in der Schweiz vebrei­tet. Ich selbst bin in Fri­bourg 1991 auf femi­ni­sti­sche Befrei­ungs­theo­lo­gie aus Asi­en gestos­sen. Zuerst bei der benedit­ki­ni­schen Ordens­obe­rin der Phil­ip­pin­nen: Mary–John Man­anz­an, bei der ich auch zum ersten Mal Shi­ba­shi begeg­ne­te. Das war für mich sehr inspi­rie­rend. Ich den­ke wir hier kön­nen viel vom Chri­sten­tum Asi­ens und der dor­ti­gen Befrei­ungs­theo­lo­gie ler­nen. Jin Shin Jyutsu wur­de von einer japa­nisch­stäm­mi­gen Ame­ri­ka­ne­rin in den Westen gebracht, die bei ihrem Kul­tur­trans­fer immer wie­der auf das Chri­sten­tum zurück­griff, weil sie dort die­sel­ben Lebens­hal­tun­gen fand. Ent­spre­chend wird auch in Klö­stern wie Ilanz Jin Shin Jyutsu ange­wen­det und unter­rich­tet. Clau­dia Men­nen: So, wie wir heu­te fin­den, die Tra­di­tio­nel­le Chi­ne­si­sche Medi­zin sei eine wun­der­ba­re Kom­ple­men­tär­me­di­zin, könn­te man die Metho­den aus ande­ren Kul­tur­krei­sen, die den Kör­per ein­be­zie­hen, als «Kom­ple­men­tär-Reli­gi­on» ver­ste­hen. Der Kör­per kommt ja sonst im Chri­sten­tum kaum vor, es kon­zen­triert sich auf das Wort. Clau­dia Not­hel­fer: Das Chri­sten­tum ist eine Reli­gi­on des Wor­tes. Men­schen brau­chen dar­über hin­aus aber ganz­heit­li­che Erfah­run­gen, die ihren Glau­ben bele­ben und in Fleisch und Blut ver­an­kern. Hier liegt tat­säch­lich eine Schwie­rig­keit. Der grie­chi­sche Aus­druck «Logos» bedeu­tet mehr als «Wort». Er bedeu­tet, dass Gott in die Welt hin­ein gebo­ren wird. Er drückt sich aus im Men­schen und auch zwi­schen den Men­schen. Gott als schwei­gen­de Exi­stenz, in die ich in die Kon­tem­pla­ti­on ein­tau­chen kann, will sich je neu aus­drücken, kon­kret wer­den, ein Ant­litz und ein Herz bekom­men. Mit Gott in Kon­takt zu sein, ist für mich dar­um eher eine Lebens­hal­tung. Dazu mag ich gern ermun­tern. Wir alle arbei­ten in unse­ren Kur­sen auch über den Kör­per. In der Lei­b­ar­beit nach Graf Dürck­heim, die ich in der Weg­be­glei­tung anbie­te, las­sen sich zum Bei­spiel Blocka­den lösen, die im Zell­be­wusst­sein abge­spei­chert sind. Sanf­te Berüh­run­gen errei­chen über den Kör­per auch die See­le. Ein wich­ti­ger Ansatz unse­rer Beglei­tungs­tä­tig­keit ist die Über­zeu­gung, dass Spi­ri­tua­li­tät nicht bloss den Kopf, son­dern den gan­zen Kör­per umfasst.Wie kann der Kör­per in die Spi­ri­tua­li­tät ein­be­zo­gen werden? Clau­dia Men­nen: Manch­mal kann gera­de mit Hil­fe des Kör­pers Unbe­wäl­tig­tes auf­ge­bro­chen wer­den. Das erle­be ich auch in mei­nen Biblio­dra­ma-Kur­sen so. Wenn mei­ne Kurs­teil­neh­me­rin­nen und –teil­neh­mer eine bibli­sche Figur «ver­kör­pern», so wirkt die­se Figur in ihnen. Sie kön­nen spü­ren, wel­che Antei­le die­ser Figur auch in ihnen vor­kom­men. Der Ansatz, den Kör­per ins spi­ri­tu­el­le Erle­ben mit ein­zu­be­zie­hen, ist für mich sehr christ­lich: Gott wird Mensch, bis in uns hin­ein. Dabei geht es uns nicht um Well­ness oder ums Fit- oder Schön­sein, son­dern um Mensch­wer­den. Letzt­lich um das Frei-Wer­den für sich und die Mit­men­schen. Susan­ne Andrea Bir­ke: Ein ganz wich­ti­ger Aspekt ist für mich der Atem. Wenn wir in Bibel und Tra­di­ti­on schau­en, fin­den wir dort auch eine Theo­lo­gie des Atems – auch wenn sie nicht im Detail aus­ge­ar­bei­tet ist: Ruach, der uni­ver­sel­le Atem, die gött­li­che, schöp­fe­ri­sche Geist­kraft, die alles zum Leben erweckt und am Leben hält und Nefesch, der indi­vi­du­el­le per­sön­li­che Atem oder auch die See­le, die zusam­men­ge­hö­ren. Nefesch haben wir nur, weil die See­le / der Atem uns ein­ge­haucht wur­de. Auch pneu­ma (Geist, Hauch, Luft) und spi­ri­tus (Geist oder der Gehauch­te) ent­hal­ten die­se Ver­bin­dung. Atem ist für mich also ein ganz grund­le­gen­der Aspekt geleb­ter Spi­ri­tua­li­tät. Clau­dia Not­hel­fer: Wenn Men­schen in Ursa­che-Wir­kung ver­haf­tet sind, kann es sein, dass die ver­meint­li­che Gewiss­heit wie ein Kar­ten­haus in sich zusam­men­fällt, sobald der Mensch in eine Kri­se gerät. Auch der soge­nann­te «Kin­der­glau­be» an einen lie­ben Gott gibt kei­nen festen Halt. Wir wol­len die Men­schen zu einem erwach­se­nen Glau­ben ein­la­den.Wodurch zeich­net sich die­ser erwach­se­ne Glau­be aus? Clau­dia Not­hel­fer: Vor­aus­set­zung ist die Abna­be­lung von einem all­zu mensch­li­chen Got­tes­ver­ständ­nis. Es geht dar­um, Gott wei­ter und grös­ser zu erfah­ren, einer­seits geheim­nis­vol­ler, weni­ger fass­bar, ande­rer­seits näher und in Bezie­hung. Unse­re Ange­bo­te bestehen eben nicht nur aus theo­lo­gi­scher Bil­dung, son­dern beinhal­ten genau­so auch Her­zens­bil­dung und spi­ri­tu­el­le Bil­dung. Wir wol­len die Men­schen anneh­men in dem, was ihnen weh tut, wo sie Schrit­te ins Neu­land suchen. Solan­ge ich hade­re, bewegt sich nichts. Dar­in sehe ich mei­ne Funk­ti­on als Beglei­te­rin: Da sein und jeman­dem hel­fen, aus­zu­hal­ten, dass das Leben so ist, wie es ist. Erst dann gehen Türen auf. Ich per­sön­lich fin­de dabei die Medi­ta­ti­on sehr hilf­reich. Medi­ta­ti­on bestärkt die Men­schen dar­in, dass sie ange­nom­men sind ohne Wenn und Aber. Ich hof­fe, dass die Men­schen dabei spü­ren, dass Gott sie annimmt ohne zu bewer­ten.Erlebt ihr die reli­giö­se Kom­po­nen­te als «Mehr­wert» bei eurer Arbeit? Clau­dia Men­nen: Es ist mei­ne voll­ste Über­zeu­gung, dass wir als Chri­sten eine zusätz­li­che Res­sour­ce haben. Der Glau­be ist eine Kraft­quel­le, wenn wir ihn exi­sten­zi­ell anzap­fen.In eurer Aus­schrei­bung des Bil­dungs- und Bera­tungs­an­ge­bo­tes kommt der Aus­druck «Gott» nicht vor. Habt ihr das Wort bewusst ver­mie­den? Clau­dia Not­hel­fer: Inter­es­san­ter­wei­se ist mir das sel­ber nicht auf­ge­fal­len. Es hat aber sicher damit zu tun, dass das Wort «Gott» eine Eng­füh­rung sein kann. Wir spre­chen Men­schen an, die suchen und hof­fen, ver­trau­en (wie­der) ler­nen möch­ten und viel­leicht erst ein­mal von Vor­stel­lun­gen befreit wer­den wol­len, die sie klein machen. Spi­ri­tua­li­tät eröff­net Wege in der Kri­se.Habt ihr manch­mal Leu­te, die sagen: Ich kann gar nichts mehr glau­ben, bei all dem Schreck­li­chen, das auf der Welt pas­siert? Clau­dia Not­hel­fer: Ja, das gibt es durch­aus. Aber ich hüte mich auch davor zu sagen, es habe alles sei­nen Sinn. Sinn ergibt für mich, wenn jemand mit einer schwie­ri­gen Situa­ti­on umge­hen kann, damit leben lernt. Dann kann man gestärkt aus einer Kri­se her­vor­ge­hen. Aber eine Kri­se – zum Bei­spiel eine schwe­re Krank­heit – hat erst Mal kei­nen Sinn. Das Pro­blem dabei ist meist unse­re Vor­stel­lung von Gott. Wenn ich Gott für alles ver­ant­wort­lich mache, was auf der Welt pas­siert, müss­te ich mich ja tat­säch­lich drin­gend von ihm ver­ab­schie­den.Mehr zur Weg­be­glei­tung von Bil­dung und Prop­stei fin­den Sie hier
Marie-Christine Andres Schürch
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