Gewandelt wandeln
«Mein Gott, nimm mich nicht fort aus meiner Tage Mitte! Deine Jahre währen durch alle Geschlechter. Vor Zeiten hast Du die Erde gegründet und die Himmel sind das Werk Deiner Hände. Sie werden vergehen – Du aber bleibst, wie ein Kleid werden sie alle zerfallen. Du wechselst sie wie ein Gewand, sie wandeln sich. Du aber bist und Deine Jahre enden niemals. Die Kinder Deiner Knechte werden sicher wohnen, ihr Geschlecht wird vor Deinem Antlitz bestehen.» (Ps 102,25–28, Münsterschwarzacher Psalter)
Der Psalm 102 ist ein verzweifelter Anruf eines frommen Beters, der sich seiner Endlichkeit bewusst wird. Die oben genannten letzten Zeilen des Psalms zeigen verdichtet, wie innig dieses Gebet vor den Herrn gebracht wird und wie sich Verzweiflung und Zuversicht vermischen. Ein Satz, der mich persönlich im Gebet – im monastischen Stundengebet wird Ps 102 donnerstags in der Komplet gebetet – immer wieder fasziniert, ist: «Du wechselst sie wie ein Gewand, sie wandeln sich.» Daraus spricht die Hingabe an die unendliche Allmacht Gottes: Die ganze Schöpfung, Himmel und Erde, sind sein Gewand, in das er sich hüllt, das er aber auch nach seinem Gutdünken wechseln kann. Wenn er das Gewand wechselt, hat die Schöpfung, und damit wir alle, die beiden Optionen, entweder wie ein altes, abgetragenes Kleid zu zerfallen, oder aber sich mit ihm wieder zu wandeln. Gott ist das Beständige, das Gewand, die Schöpfung, wir, sind dem steten Wechsel unterworfen. Das Vertrauen darauf, dass das uns gelingt, drückt der Beter im letzten Satz aus, denn die Nachfahren werden bestehen.
Das Bild des Gewandes ist im Judentum und Christentum ein starkes Symbol: Das Bussgewand, das Gehen in Sack und Asche. Die Propheten, die es dem Volk Israel verkündeten, Johannes der Täufer, der es vormachte, die Bussprozessionen, die im Mittelalter durch ganz Europa zogen. Am Aschermittwoch lassen wir uns mit Asche bedecken und werden zur Umkehr, zur Wandlung, zum inneren Austausch des Gewandes aufgerufen, im vollen Bewusstsein, das Gott aber bleibt und feststeht. Die Fastenzeit ruft uns auf und gibt uns die Chance, Ihm ein neues Gewand zu sein. Lassen wir uns verwandeln!
Benedikt Locher, Pfarrer Münchenstein