Gelas­sen­heit und Altersskepsis

Theo­lo­gie­pro­fes­sor Ralph Kunz beschäf­tigt sich wis­sen­schaft­lich mit dem The­ma Reli­gi­on und Reli­gio­si­tät im Alter. Reli­gi­ons­ge­ron­to­lo­gie heisst sein Fach­ge­biet. Im Inter­view erklärt er, wie sich der Glau­be mit dem Alter verändert.Ralph Kunz, Sie for­schen zum The­ma Reli­gi­on im Alter. Wel­che Rol­le spielt der Glau­be im Alter? Ver­än­dert sich sei­ne Bedeu­tung? Ralph Kunz: Zuerst muss man das Alter genau­er defi­nie­ren, da sich hier in den letz­ten Jahr­zehn­ten eini­ges ver­än­dert hat. Die Men­schen wer­den heu­te im Durch­schnitt immer älter. Man unter­schei­det zwi­schen dem drit­ten und dem vier­ten Alter, zwi­schen jun­gen und alten Alten. Für einen «jun­gen» 65-Jäh­ri­gen ist der Glau­be in der Regel genau­so wich­tig oder unwich­tig, wie er es zuvor schon war. Er bezeich­net sich sel­ber auch nicht als alt und fühlt sich kaum ange­spro­chen durch die soge­nann­te Alters­ar­beit der Kir­chen. Reli­giö­se The­men wer­den ab 70, 75 Jah­ren inter­es­san­ter.War­um? Was geschieht da? Im höhe­ren Alter zeigt sich ein deut­li­cher Anstieg von Reli­gio­si­tät. Zugleich aber offen­bart sich hier eine der Schwä­chen aller Unter­su­chun­gen im Bereich Alter. Denn: Bei den über 75-Jäh­ri­gen han­delt es sich um Men­schen, die in den 1940er-Jah­ren sozia­li­siert wur­den, als die Kir­che also selbst­ver­ständ­lich zum Leben dazu­ge­hör­te. Aller­dings gibt es eine Grund­ten­denz, die viel­fach belegt ist: exi­sten­zi­el­le Grenz­erfah­run­gen machen sen­si­bel für spi­ri­tu­el­le Fra­gen.Inwie­fern? Erschüt­tern­de Erfah­run­gen wer­fen Sinn­fra­gen auf. Das ist nicht alters­spe­zi­fisch und kann in jeder Lebens­pha­se gesche­hen: die Geburt eines Kin­des, eine Schei­dung, Krank­heit, Behin­de­rung, der Ver­lust eines gelieb­ten Men­schen. Im hohen Alter aber häu­fen sich die­se Erfah­run­gen von Beschrän­kung, Ver­lust, Bedürf­tig­keit. Das erhöht die Bereit­schaft, sich ver­tieft mit Sinn- und Glau­bens­fra­gen zu befas­sen. Gero­tran­szen­denz nennt der dänisch-schwe­di­sche Geron­to­lo­ge Lars Torn­s­tam die­sen Pro­zess der Spi­ri­tua­li­sie­rung.Hat das einen Ein­fluss auf das Ver­hält­nis zur Reli­gi­ons­ge­mein­schaft, der man ange­hört? Ja. Gero­tran­szen­denz geht oft ein­her mit Gelas­sen­heit und Alters­skep­sis. Dog­men wer­den hin­ter­fragt, Irri­ta­tio­nen ver­schär­fen sich. Der Glau­be wird indi­vi­du­el­ler, mün­di­ger, selbst­ver­ant­wor­te­ter. Das hat auch damit zu tun, dass man im hohen Alter Zeit zum Nach­den­ken hat. Man steckt nicht mehr im All­tags­be­trieb, muss nicht mehr stän­dig pro­du­zie­ren, steht nicht mehr unter Zeit­druck.Man wird alters­wei­se? Man kann es wer­den. Weis­heit ist die Wis­sens­form des Alters. Sie baut auf Lang­sam­keit auf, auf per­sön­li­che Erfah­run­gen und nicht auf theo­re­ti­sche und spe­ku­la­ti­ve Kon­zep­te.Sie haben im Natio­na­len For­schungs­pro­jekts zu «Reli­gi­on, Gesell­schaft und Staat» an einem Teil­pro­jekt zum Alter mit­ge­ar­bei­tet. Wor­um ging es? Um eine qua­li­ta­ti­ve Stu­die unter Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­nern eines Alters­heims – eine jüdi­sche, fünf katho­li­sche und sechs pro­te­stan­ti­sche Per­so­nen. Wir gin­gen der Fra­ge nach, ob sich Reli­gi­on als poten­zi­el­le Res­sour­ce auf das sub­jek­ti­ve Wohl­be­fin­den im Alter aus­wirkt.Was haben Sie her­aus­ge­fun­den? Das ein­drück­lich­ste Ergeb­nis war: Die mei­sten Befrag­ten sind trotz Pfle­ge­be­dürf­tig­keit erstaun­lich glück­lich. Sie neh­men die Pfle­ge als etwas wahr, das ihnen gut­tut. Die ver­brei­te­te Schreckens­vor­stel­lung vom Dahin­sie­chen in Abhän­gig­keit scheint vor allem die Angst von Men­schen im «besten» Alter zu sein.Und was spielt die Reli­gi­on dabei für eine Rol­le? Gene­rell ist durch zahl­rei­che Unter­su­chun­gen belegt: Reli­giö­se Men­schen sind im Schnitt zufrie­de­ner; sie wer­den leich­ter fer­tig mit gewis­sen Schwie­rig­kei­ten, sind eher bereit, Hil­fe anzu­neh­men. Inten­siv prak­ti­zier­ter Glau­be hilft offen­sicht­lich, die vor­han­de­nen phy­si­schen, psy­chi­schen, kul­tu­rel­len und sozia­len Res­sour­cen gut zu mana­gen und so Bela­stun­gen bes­ser aus­zu­hal­ten. Das heisst nicht, dass man immer glück­lich ist. Reli­gio­si­tät kann auch zur Trau­er hel­fen, sie sogar ver­stär­ken. Umge­kehrt kann in schwie­ri­gen Situa­tio­nen das Gott­ver­trau­en wach­sen.Geron­to­lo­gie als Wis­sen­schaft vom Alter boomt. Sie befas­sen sich mit Reli­gi­ons­ge­ron­to­lo­gie. Was ist das? Reli­gi­ons­be­zo­ge­ne Geron­to­lo­gie ist eine For­schungs­per­spek­ti­ve, die unter­schied­li­che Dis­zi­pli­nen auf ein The­ma hin bün­delt: die Bedeu­tung der Reli­gio­si­tät für das Altern und das Alter. Um die­ser auf den Grund zu kom­men, befas­sen wir uns eigent­lich mit allen Fra­gen der Geron­to­lo­gie.Wer heu­te sehr alt ist, ist mehr­heit­lich noch reli­gi­ös behei­ma­tet. Die Reli­gi­ons­ge­ron­to­lo­gie tappt aber letzt­lich im Dun­keln, was die Zukunft angeht, wie Sie sel­ber bemerkt haben. Eine aktu­el­le Stu­die, die im Auf­trag der evan­ge­li­schen Kir­chen in Deutsch­land unter 60- bis 69-Jäh­ri­gen durch­ge­führt wur­de, spie­gelt die all­ge­mei­ne gesell­schaft­li­che Ent­wick­lung: Säku­la­ri­sie­rung, Abkehr von reli­giö­sen Insti­tu­tio­nen. Das heisst aber nicht, dass die Men­schen heu­te weni­ger spi­ri­tu­ell sind.Nebst vie­len Kon­fes­si­ons­lo­sen wer­den der­einst auch Mus­li­min­nen und Hin­dus in Alters­hei­men leben. Was bedeu­tet das für die Seel­sor­ge? Alle Reli­gio­nen, die hier stark ver­tre­ten sind, müss­ten eigent­lich die nöti­gen Mit­tel für insti­tu­tio­nel­le Seel­sor­ge haben; das heisst für die Seel­sor­ge in Gefäng­nis­sen, Spi­tä­lern, Alters- und Pfle­ge­hei­men. Eine wich­ti­ge Vor­aus­set­zung dafür ist die öffent­lich-recht­li­che Aner­ken­nung. Dies wird, den­ke ich, für die gros­se mus­li­mi­sche Gemein­schaft die Zukunft sein. Bis dahin gilt es aber noch eini­ge Hür­den zu neh­men, vor allem auch inner­halb der Reli­gi­ons­ge­mein­schaft.Spi­ri­tu­al Care ist in aller Mun­de, sie ist reli­gi­ons­un­ge­bun­den. Könn­te sie nicht die Seel­sor­ge der Zukunft sein, in einer säku­la­ri­sier­ten und zugleich mul­ti­re­li­giö­sen Gesell­schaft? Nein, das sehe ich anders. Spi­ri­tu­al Care ist ein Segen. Sie hat den gan­zen Men­schen im Auge – kör­per­lich, psy­chisch, sozi­al, spi­ri­tu­ell. Dass sich die­se ganz­heit­li­che Hal­tung in Spi­tä­lern und Alters­hei­men, bei Ärz­ten und Pfle­ge­per­so­nen, immer mehr durch­setzt, ist sehr wün­schens­wert. Den­noch soll Spi­ri­tu­al Care nicht die Seel­sor­ge erset­zen.War­um? Genau­so wie es in der Pfle­ge Fin­ger­spit­zen­ge­fühl braucht im Umgang mit kör­per­li­cher Distanz und Nähe, braucht es geist­li­ches Fin­ger­spit­zen­ge­fühl im Umgang mit der See­le. Dazu ist eine ver­tief­te Aus­bil­dung nötig. Das Bedürf­nis nach Seel­sor­ge misst sich nicht an Mit­glie­der­zah­len von Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten, son­dern am Wunsch nach Spi­ri­tua­li­tät. Die Seel­sor­ge steht für kla­re Wer­te, das wird sehr geschätzt, auch von nicht gläu­bi­gen oder anders­gläu­bi­gen Men­schen. Im Fall der christ­li­chen Seel­sor­ge sind die­se Wer­te Näch­sten­lie­be, Barm­her­zig­keit, Gna­de. Dos­sier zum The­ma «Reli­gi­on und Alter» Lesen Sie näch­ste Woche mehr zum The­ma «Reli­gi­on und Alter»: In der Print-Aus­ga­be des Aar­gau­er Pfarr­blatts Hori­zon­te, die am Don­ners­tag, 29. Okto­ber 2015 erscheint, liegt das «Dos­sier zur Woche der Reli­gio­nen» bei. Es zeigt ver­schie­den­ste Aspek­te des The­mas «Reli­gi­on und Alter» aus inter­re­li­giö­ser Perspektive.
Marie-Christine Andres Schürch
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