Flucht nach­emp­fin­den: Eine inter­ak­ti­ve Ausstellung

Flucht nach­emp­fin­den: Eine inter­ak­ti­ve Ausstellung

  • Nach 2015 ist die­ses Jahr der bekann­te Flucht­truck von Mis­sio wie­der für eine Woche in der Schweiz. Der Last­wa­gen ermög­licht im Rah­men einer inter­ak­ti­ven Simu­la­ti­on das Nach­er­le­ben von Flüchtlingsschicksalen.
  • Noch heu­te Don­ners­tag macht der Flucht­truck Sta­ti­on in Aar­au. Am Nach­mit­tag zwi­schen 14 und 17 Uhr steht er für die Öffent­lich­keit offen. Dar­über hin­aus gibt es geschlos­se­ne Grup­pen­füh­run­gen für Kan­tons­schul­klas­sen und Firm­grup­pen mit ver­tie­fen­den Ateliers.
 Die zwan­zig­jäh­ri­ge Kan­tons­schü­le­rin Char­lot­te aus Seon und ihre Kol­le­gin haben in einer Kapel­le irgend­wo im Kon­go Unter­schlupf vor her­an­stür­men­den Mili­zen gefun­den. Es sind Schüs­se zu hören. Via Bild­schirm warnt ein Ein­hei­mi­scher vor den anrücken­den Kämp­fern. Die bei­den jun­gen Frau­en packen ihre nötig­sten Sachen für die Flucht: Pass, Adress­buch, Mes­ser, Zeug­nis­se und ein paar weni­ge Kla­mot­ten. Dann bestei­gen die bei­den einen Bus, der in Rich­tung Nai­ro­bi fährt. Die Fahrt führt über holp­ri­ge Stras­sen, vor­bei an bren­nen­den Häu­sern. In Nai­ro­bi kom­men die bei­den bei einer Tan­te unter und müs­sen sich mit Gele­gen­heits­jobs durch­schla­gen.

Acht Ava­tare ste­hen zur Aus­wahl – alles wah­re Geschichten

Zum Glück ist alles nur eine Ani­ma­ti­on. Im Flucht­truck des christ­li­chen Hilfs­werks Mis­sio, der die­sen Mitt­woch und Don­ners­tag auf dem Aar­au­er Bahn­hof­platz steht, hat man die Mög­lich­keit, im Rah­men eines inter­ak­ti­ven Par­cours in die Per­son eines Flücht­lings zu schlüp­fen. Am Bei­spiel von Bür­ger­kriegs­flücht­lin­gen aus dem Ost­kon­go wer­den die Besu­che­rin­nen und Besu­cher für die Aus­nah­me­si­tua­ti­on Flucht sen­si­bi­li­siert.«Das Gan­ze star­tet auf einem Markt im Kon­go – die Welt ist noch in Ord­nung», erklärt Koor­di­na­to­rin Livia Schny­der. Die Besu­che­rin­nen und Besu­cher kön­nen aus acht Per­so­nen einen Ava­tar wäh­len, in des­sen Rol­le sie schlüp­fen. Char­lot­te wählt die 28-jäh­ri­ge Stu­den­tin Chri­stel­le. Die­se stu­diert Medi­zin und steht kurz vor dem Examen. Das Geld für ihren Lebens­un­ter­halt ver­dient sich Chri­stel­le mit Nacht­wa­chen im Kran­ken­haus. «Die­se Wahl war für mich nahe­lie­gend, denn ich bin ja jetzt auch bald Stu­den­tin. Die Situa­ti­on ist mir somit ein Stück nahe», erklärt die Schü­le­rin, die im Som­mer ihre Matu­ra­prü­fun­gen ablegt.

Nach­füh­len, was sich nicht wirk­lich begrei­fen lässt

«Im zwei­ten Raum wird es brenz­lig», erklärt Livia Schny­der. «Mili­zen grei­fen das Dorf an, in wel­chem Chri­stel­le wohnt. Die Men­schen müs­sen flüch­ten». Zuerst mit dem Bus, her­nach zu Fuss – bis über die Lan­des­gren­ze. Die auf­be­rei­te­ten Schick­sa­le für die Besu­che­rin­nen und Besu­cher des Trucks ver­mit­teln auf anschau­li­che Wei­se, was Flucht bedeu­tet. «Und sie beru­hen auf wah­ren Bege­ben­hei­ten», betont Livia Schny­der. «Das ist mit viel Lie­be gemacht», urteilt die Kan­tons­schü­le­rin Char­lot­te im Anschluss an den Rund­gang. «Man kann mit­füh­len, was Flucht bedeu­tet, auch wenn wir wohl nie wirk­lich begrei­fen wer­den, was das heisst.»2012 wur­de der Flucht­truck in Deutsch­land kon­zi­piert, 2015 kam er zum ersten Mal in die Schweiz. «Das Ange­bot stiess auf reges Inter­es­se – auch in der Schweiz», erin­nert sich Livia Schny­der von Mis­sio Schweiz. Gera­de Pfar­rei­en und Schu­len bekun­de­ten gros­ses Inter­es­se am Ange­bot «Mitt­ler­wei­le tou­ren in Deutsch­land zwei Trucks», so Livia Schny­der. Den Truck noch­mals in die Schweiz zu bekom­men, sei ter­min­lich nicht ein­fach gewe­sen. Glück­li­cher­wei­se sei es gelun­gen. In der ersten Mai­wo­che die­ses Jah­res steu­ert er unter ande­rem Fri­bourg, Inter­la­ken und Aar­au an.

Römisch-Katho­li­sche Lan­des­kir­che hol­te Truck in den Aargau

Im Aar­gau hat sich die Römisch-Katho­li­sche Lan­des­kir­che um das Ange­bot bemüht. «Die Initia­ti­ve ging von Clau­dia Not­hel­fer von der Fach­stel­le Bil­dung und Prop­stei aus», erklärt Susan­ne Muth von der Fach­stel­le für Jugend und jun­ge Erwach­se­ne. «Ich habe dann bei unse­ren Jugend­ar­bei­tern und den Beauf­trag­ten für kirch­li­che Auf­ga­ben an Kan­tons­schu­len nach­ge­fragt, ob sie inter­es­siert sei­en. Die Rück­mel­dun­gen waren posi­tiv. Der Truck habe auch super ins Pro­jekt «Fremd­sein» gepasst, freut sich Susan­ne Mut. Die Römisch-Katho­li­sche Lan­des­kir­che Aar­gau will im Rah­men ihres Legis­la­tur­ziels «Fremd­sein» näm­lich für den Umgang mit Frem­den, aber auch für die eige­ne Hal­tung dem Frem­den gegen­über sen­si­bi­li­sie­ren.An jenem Mitt­woch­nach­mit­tag kom­men drei Kan­tons­schul­klas­sen mit Ergän­zungs­fach Reli­gi­on von der Alten Kan­tons­schu­le Aar­gau zum Flucht­truck. Dort fin­det für die Jugend­grup­pen auch ein ver­tie­fen­des Ate­lier statt. Die­ses lei­tet Jan­son Bulam­bo von der Schwei­ze­ri­schen Flücht­lings­hil­fe. Der gebür­ti­ge Kon­go­le­se muss­te einst sel­ber flüch­ten und ist heu­te Exper­te für kon­go­le­si­sche Poli­tik. «Ich erklä­re den Jugend­li­chen, war­um Men­schen flüch­ten, was mit ihnen hier pas­siert und was es mit der Situa­ti­on im Kon­go auf sich hat.»

«Flücht­lin­ge sind kei­ne Goril­las aus dem Dschungel»

Jan­son Bulam­bo weiss die Jugend­li­chen zu packen. «Ich möch­te Flücht­lin­gen ein Gesicht geben. Das sind kei­ne Goril­las, die aus dem Dschun­gel aus­ge­bro­chen sind, son­dern Men­schen wie wir.» Beein­druckend sind auch die Ein­blicke in kon­go­le­si­sche Ver­hält­nis­se, die Jan­son Bulam­bo anhand von Bil­dern gewährt. Da sind einer­seits Kof­fer vol­ler Geld von kor­rup­ten Beam­ten zu sehen, dann ein Fisch­markt mit ver­gam­mel­ter Ware und Stras­sen, die völ­lig im Morast ver­sin­ken. «Die­se Stras­sen hät­ten vor ein paar Jah­ren für 10 Mil­li­ar­den Dol­lar repa­riert wer­den sol­len», erklärt der Kon­go­le­se. «Das ist nicht pas­siert. Schuld ist die Kor­rup­ti­on. Hohe Beam­te strei­chen den Löwen­an­teil des ihnen zur Ver­fü­gung ste­hen­den Bud­gets ein und ver­tei­len einen Teil davon an ihre Pro­te­gés». Allein der Vize­prä­si­dent der Wahl­kom­mis­si­on habe von 25 Mil­lio­nen Dol­lar gute 20 Mil­lio­nen ein­be­hal­ten.Oft gebe es Kon­flik­te zwi­schen loka­len Beam­ten und Regio­nal­gou­ver­neu­ren. Erste­re hal­ten sich oft eige­ne Sol­da­ten und es kommt regel­mäs­sig zu gewalt­sa­men Aus­ein­an­der­set­zun­gen, unter denen die Bevöl­ke­rung lei­det.

Die umlie­gen­den Restau­rants spie­geln unse­re Vorbehalte

Beim Flucht­truck emp­fängt der­weil die frei­wil­li­ge Mit­ar­bei­te­rin Céci­le Wit­tensöld­ner die näch­sten Jugend­li­chen an einem Tisch. «Über­legt euch mal, was Hei­mat, was Gast­freund­schaft und was Flucht bedeu­tet», ver­sucht sie die Jugend­li­chen auf den Rund­gang im Truck ein­zu­stim­men. Der Tisch, an dem die Jugend­li­chen sich Noti­zen machen, hat das benach­bar­te asia­ti­sche Restau­rant spon­tan zur Ver­fü­gung gestellt. Das Restau­rant des angren­zen­den Hotels moch­te hier­für nicht Hand bie­ten. Eine bezeich­nen­de Situa­ti­on für den Umgang mit Frem­den bei uns, wie er im Flucht­truck im letz­ten Raum the­ma­ti­siert wird: Dif­fu­se Äng­ste und abwar­ten­de, beob­ach­ten­de Zurück­hal­tung, ohne sich zu invol­vie­ren. Der Flucht­truck ver­sucht, sol­che Muster auf­zu­bre­chen, indem wir die Gele­gen­heit erhal­ten, ein­mal in die Situa­ti­on von Betrof­fe­nen zu schlüpfen. 
Andreas C. Müller
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