Jugend­li­che beschäf­ti­gen sich mit Extremismus

Jugend­li­che beschäf­ti­gen sich mit Extremismus

  • Gestern fand an der Neu­en Kan­tons­schu­le Aar­au zum ersten Mal ein Pro­jekt­halb­tag statt, zu dem die Schü­le­rin­nen und Schü­ler der Ergän­zungs- und Frei­fä­cher Reli­gi­on aller Aar­gau­er Kan­tons­schu­len ein­ge­la­den waren. The­ma war der Umgang mit Extre­mis­mus und Radikalismus.
  • Der Pro­jekt­halb­tag in Aar­au wur­de gestal­tet von bekann­ten Schwei­zer Per­sön­lich­kei­ten wie bei­spiels­wei­se dem streit­ba­ren Bas­ler Sozio­lo­gen Ueli Mäder. Die­ser bezeich­ne­te den finanz­ge­trie­be­nen Libe­ra­lis­mus als prä­gen­den Extre­mis­mus der Gegen­wart in der Schweiz
  • Ein­ge­la­den zum Pro­jekt­halb­tag hat­te die Aar­gau­er Kon­fe­renz der Reli­gio­nen, der neben den Aar­gau­er Lan­des­kir­chen auch die israe­li­ti­sche Kul­tus­ge­mein­de Baden und der Ver­band Aar­gau­er Mus­li­me (VAM) angehört.
 «Der schnel­le sozia­le Wan­del von heu­te ver­un­si­chert», erklär­te der Sozio­lo­ge Ueli Mäder vor gut 90 Jugend­li­chen, die aus dem gan­zen Kan­ton zum Pro­jekt­halb­tag zum The­ma Extre­mis­mus an der Neu­en Kan­tons­schu­le Aar­au zusam­men­ge­kom­men waren. Sogar Schwei­zer Fern­se­hen SRF war zuge­gen und film­te für einen kur­zen Nach­rich­ten­bei­trag. Der eme­ri­tier­te Bas­ler Sozio­lo­gie­pro­fes­sor war fürs Ein­füh­rungs­re­fe­rat gela­den und for­der­te die Jugend­li­chen auf, der Ver­un­si­che­rung stand­zu­hal­ten anstel­le des ein­fa­chen Wegs, sich mit popu­li­sti­schen Strö­mun­gen zu iden­ti­fi­zie­ren.

«Wenn wir die Ell­bo­gen aus­fah­ren, haben wir Platz»

Die Ursa­che für die aktu­el­le Ver­un­si­che­rung orte­te Ueli Mäder in einem «stark finanz­ge­trie­be­nen Libe­ra­lis­mus», der über­dies sehr kon­kur­renz­be­tont sei. «Unser Bild von erfolg­rei­cher Kon­flikt­be­wäl­ti­gung beruht dar­auf, dass wir ler­nen: Wenn wir die Ell­bo­gen aus­fah­ren, haben wir schnell mehr Platz – auf Kosten ande­rer. Das soll­te man schon hin­ter­fra­gen.»Beim Ver­such, das Wesen des Extre­mis­mus zu erklä­ren, schlug Ueli Mäder einen bio­gra­fi­schen Bogen von der eige­nen Radi­ka­li­sie­rungs­er­fah­rung in der 1968er-Zeit bis hin zum «finanz­ge­trie­be­nen Libe­ra­lis­mus» der Gegen­wart. Die­ser ver­kör­pe­re «etwas Extre­mes, das wir gern dem Isla­mis­mus zuschrei­ben». Das Geld sei das Wich­tig­ste gewor­den. Aber das Ver­ständ­nis, dass wir alle davon pro­fi­tie­ren soll­ten, «ist seit Ende der 1980er-Jah­re auf der Strecke geblie­ben. Wie viel wert die Arbeit ist, defi­niert heu­te der Markt.»Ein­ge­la­den zum Pro­jekt­halb­tag in Aar­au hat­te die Aar­gau­er Kon­fe­renz der Reli­gio­nen, der neben den Aar­gau­er Lan­des­kir­chen auch die israe­li­ti­sche Kul­tus­ge­mein­de Baden und der Ver­band Aar­gau­er Mus­li­me (VAM) ange­hö­ren. «Obwohl alle Reli­gio­nen sich die fried­li­che Koexi­stenz auf die Fah­nen geschrie­ben haben, gibt es Men­schen, die im Namen Got­tes töten», erklär­te Luc Hum­bel in sei­nem Gruss­wort den Beweg­grund für die Ein­la­dung. Extre­mis­mus sei jedoch nicht zwin­gend immer nur reli­gi­ös moti­viert, so der Kir­chen­rats­prä­si­dent der Römisch-Katho­li­schen Lan­des­kir­che Aar­gau. Häu­fig radi­ka­li­sier­ten sich Men­schen, die sich nicht als Teil der Gesell­schaft fühl­ten.

Fas­zi­na­ti­on fürs Klosterleben

Für die Umset­zung und Mode­ra­ti­on des Pro­jekt­halb­tags enga­gier­ten sich die bei­den kan­to­na­len Beauf­trag­ten für Reli­gi­ons­un­ter­richt an den Kan­tons­schu­len Baden und Aar­au der Römisch-Katho­li­schen Lan­des­kir­che Aar­gau, Ben­ja­min Ruch und Mar­tin Zür­cher. Nach dem ein­füh­ren­den Refe­rat des Bas­ler Sozio­lo­gen ver­tief­ten ver­schie­de­ne gela­de­ne Gäste im Ple­num das The­ma. Dar­un­ter Simon Küf­fer ali­as Rap­per Tom­my Ver­cet­ti, Anja Con­zett, Repor­te­rin der unlängst lan­cier­ten Online-Publi­ka­ti­on «Repu­blik», Tug­ba Schuss­mann, Sozio­kul­tu­rel­le Ani­ma­to­rin, Schwe­ster Ini­ga, lang­jäh­ri­ge Gefäng­nis­seel­sor­ge­rin in der Justiz­voll­zugs­an­stalt Lenz­burg und C.R. Ban­goon (Name von der Redak­ti­on geän­dert), der wäh­rend eini­gen Jah­ren Mit­glied einer radi­kal-reli­giö­sen Grup­pe war.Beson­ders fas­zi­nier­te die Jugend­li­chen Schwe­ster Ini­gas Weg. Kon­kret die Mög­lich­keit, sich der Welt ent­zie­hen zu kön­nen. «Bei uns ist immer so viel los. Im Klo­ster kann man sich dem wid­men, was einen wirk­lich inter­es­siert», äus­ser­te eine Schü­le­rin ihre idea­li­sier­te Vor­stel­lung vom Klo­ster­le­ben. Ein ande­rer Jugend­li­cher erklär­te, er kön­ne gut nach­voll­zie­hen, dass Men­schen ins Klo­ster gehen: «Weil du da Ent­schei­dun­gen abge­ge­ben kannst. Wir kön­nen heu­te alles machen, haben kaum noch Richt­li­ni­en – das kann auch über­for­dern.» «Ist das Klo­ster­le­ben denn eine radi­ka­le Lebens­form?», hak­te Mode­ra­tor Ben­ja­min Ruch nach. «Heu­te tritt ja nie­mand mehr ins Klo­ster ein», gab die Bald­eg­ger Fran­zis­ka­ne­rin lako­nisch zur Ant­wort und ergänz­te dann: «Schon zu mei­ner Zeit war aber der Klo­ster­ein­tritt ein radi­ka­ler Schritt».

Ana­ly­se von Extre­mi­sten in Workshops

In ver­schie­de­nen Work­shops hat­ten die Jugend­li­chen die Mög­lich­keit, bei den Teil­neh­me­rin­nen und Teil­neh­mern des Podi­ums in klei­nen Grup­pen das The­ma des Pro­jekt­ta­ges zu ver­tie­fen. Repor­te­rin Anja Con­zett las den Jugend­li­chen einen ihrer Tex­te vor, in wel­chem Mit­glie­der des «Ku-Klux-Klans» zu Wort kamen und erör­ter­te anhand die­ser Bei­spie­le, was denn die beschrie­be­nen Men­schen zu Extre­mi­sten mache. Die Schü­le­rin­nen und Schü­ler ver­moch­ten rasch wesent­li­che Merk­ma­le wie bei­spiels­wei­se ein­di­men­sio­na­les, wider­sprüch­li­ches Rechts­emp­fin­den oder man­geln­de Refle­xi­ons­fä­hig­keit zu benen­nen.Ob es denn rich­tig sei, wenn Jour­na­li­sten Extre­mi­sten zu Wort kom­men las­sen, woll­te Anja Con­zett wei­ter von den Jugend­li­chen wis­sen. «Ja, das hilft uns, die­se Men­schen zu ver­ste­hen», lau­te­te die ein­hel­li­ge Ant­wort der Anwe­sen­den.

«Im Inter­net gibt es viel Extremismus»

Die Jugend­li­chen zeig­ten sich im Gros­sen und Gan­zen zufrie­den mit dem Ange­bot. Ins­be­son­de­re Ueli Mäders mit Anek­do­ten ange­rei­cher­tes Refe­rat hat­te es den Schü­le­rin­nen und Schü­lern ange­tan. «Ich habe schon vie­le Vor­trä­ge gehört und bin oft abge­schweift. Bei Herrn Mäder nicht», erklär­te bei­spiels­wei­se Mia Stauf­fa­cher aus Aar­au gegen­über Hori­zon­te. «Man merkt, dass er vie­le Men­schen getrof­fen hat», ergänz­te Thi­mea Mol­let, eben­falls aus Aar­au.Auf die Fra­ge, wo die Jugend­li­chen denn selbst Extre­mis­mus erlebt hät­ten, blie­ben vie­le eine Ant­wort schul­dig. «In der Schweiz gibt es wenig Extre­mis­mus», mein­te der Schü­ler Tim Rih­ner. Im Inter­net hin­ge­gen fin­de man viel davon, je nach­dem wel­chen Social Media-Kanä­len man fol­ge.Und wo erle­ben sich die Jugend­li­chen selbst als extrem? Ein Schü­le­rin nann­te den radi­ka­len Ver­zicht auf Fleisch­kon­sum als Fol­ge eines Gewis­sens­ent­scheids, eine ande­re ihr femi­ni­sti­sches Gedan­ken­gut. Radi­kal oder extrem zu sein, müs­se jedoch nicht zwin­gend etwas Nega­ti­ves bedeu­ten, fol­ger­ten die mei­sten Jugend­li­chen. Im Übri­gen sei es schwer zu defi­nie­ren, wo denn Radi­ka­lis­mus begin­ne, mein­te Nadi­ne Bara­dun aus Woh­len. Man müs­se das auch in Rela­ti­on zu dem sehen, was als nor­mal gel­te. «Wenn ich mei­ne Kirch­ge­mein­de anschaue, dann sind die Nor­ma­los die­je­ni­gen, wel­che Kir­chen­steu­ern zah­len, aber nie einen Got­tes­dienst besu­chen. Die Radi­ka­len wären dann jene, die regel­mäs­sig im Got­tes­dienst sitzen». 
Andreas C. Müller
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