Ein Ruf in den Gassen von Granada
Jeremia 1,4–8Das Wort des Herrn erging an mich: Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoss hervorkamst, habe ich dich geheiligt, zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt. Da sagte ich: Ach, Herr und Gott, ich kann doch nicht reden, ich bin ja noch so jung. Aber der Herr erwiderte mir: Sag nicht: Ich bin noch so jung … Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin mit dir um dich zu retten – Spruch des Herrn.Einheitsübersetzung 2016 Ein Ruf in den Gassen von Granada
Fast alle Pflegefachpersonen in der Schweiz kennen den «Juchli», das Lehrbuch von Sr. Liliane Juchli. Sie hat Generationen von Pflegenden in der Ausbildung geprägt. Ihre Biografie «Liliane Juchli – ein Leben für die Pflege» drückt diese Leidenschaft für eine achtsame und professionelle Pflege aus. So mag auch der heilige Johannes von Gott im 16. Jahrhundert sich für ein Leben für die Pflege entschieden haben. Er reformierte die Krankenpflege. Bemerkenswert waren seine Behandlungsmethoden für psychisch kranke Menschen, mit denen er seiner Zeit voraus war.Er war ein leidenschaftlich Suchender und hat in der damaligen Zeit fast überall gearbeitet. Nach neusten Forschungen stammte Johannes vermutlich aus einer jüdischen Familie in Spanien. Es wird angenommen, dass seine Eltern mit ihm als Kind nach Portugal flohen, weil die Juden ab 1492 aus Spanien vertrieben wurden, wenn sie sich nicht taufen liessen. Auf die Kindheit in Portugal folgten Tätigkeiten als Schafhirt, Soldat an der Front, Arbeiter an den Küsten Spaniens und Nordafrikas und als Buchhändler. Dann geschah etwas, was sein Leben völlig veränderte: Er hörte die Predigt des heiligen Johannes von Ávila. Mit 43 Jahren geriet er in einen verwirrten Zustand, bis er wieder zu sich fand.Der Prophet Jeremia, auch er ein leidenschaftlich Suchender, sprach bei seiner Berufung: «Ach, Herr und Gott, ich kann doch nicht reden, ich bin ja noch so jung» (Jeremia 1,6).Johannes von Gott hingegen war für die damalige Zeit fast schon alt, als er den Wendepunkt seines Lebens erreichte. Er mag zuerst gedacht haben, ich bin ja zu alt, so wie es Abraham, Simeon und Hanna im Tempel (Lukas 2,22ff.) ausgesprochen hatten. Doch im Text von Jeremia berührt mich besonders der Satz: «Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen … habe ich dich geheiligt …» (Jeremia 1,4). Nicht nur Jeremia oder Johannes von Gott wurden von Gott schon vor ihrer Existenz gedacht, gesehen und in der Zeit liebend umhüllt und das ganze Leben begleitet, auch wir wurden seit jeher gedacht, wohlwollend gesehen, zärtlich umhüllt und bis zum heutigen Tag begleitet. So mögen wir zwar denken: Ich bin zu jung oder zu alt, zu schwach oder zu dumm oder zu unbedeutend. Aber eine zeitweilige Unruhe, eine Sehnsucht, eine leise Hoffnung mögen uns immer wieder dazu einladen, jedoch nie fordernd, das «Mehr als alles» in unserem Leben zu suchen und zu finden.In den Gassen von Granada wirkte der nicht mehr junge Johannes von Gott. Dort öffnete sich sein Herz für den Ruf Gottes und die Kranken. Granada habe ich auf Reisen selbst lieben gelernt. In Erinnerung an diese Gassen sehe ich ihn vor meinem inneren Auge von einem zur anderen gehen, voller Hingabe und manchmal mit einem Granatapfel in der Hand – das Symbol der Stadt.
Anna-Marie Fürst,
Theologin, Altersseelsorgerin in Basel-Stadt, bis 2021 in der Gefängnisseelsorge tätig.