Ein Hun­ger­tuch, das anstachelt

  • In den fünf Kir­chen des Pasto­ral­raums Obe­res Frei­amt hängt in die­ser Fasten­zeit ein ganz beson­de­res Bild: das Hun­ger­tuch der Sin­ser Künst­le­rin Anne­mie Lieder.
  • Der gezeich­ne­te Dor­nen­kranz sym­bo­li­siert die unauf­hör­li­che Aus­ein­an­der­set­zung des Men­schen mit den Dor­nen in sei­nem Leben; jene, die ihn quä­len, und die­je­ni­gen, mit denen er ande­re quält.
  • Das Hun­ger­tuch hängt als Zei­chen der Zusam­men­ge­hö­rig­keit nach der Fasten­zeit 2019 schon zum zwei­ten Mal über den Altä­ren in Abt­wil, Auw, Diet­wil, Ober­rü­ti und Sins – sehr zur Freu­de der Gläubigen.
 Fünf Pfar­rei­en, ein Pasto­ral­raum, ein Hun­ger­tuch. Über den Volks­al­tä­ren der Kir­chen von Abt­wil, Auw, Diet­wil, Ober­rü­ti und Sins prangt seit dem Ascher­mitt­woch eine Farb­stift­zeich­nung von Anne­mie Lie­der. Sie zeigt einen gefloch­te­nen Dor­nen­kranz in fei­nen Braun- und Grau­tö­nen vor grün­lich wol­ki­gem Hin­ter­grund. «Als Vor­la­ge dien­te mir die Ber­be­rit­ze», erklärt die Sin­ser Künst­le­rin in ihrem Ate­lier und Wohn­haus, das umge­ben ist von einem lie­be­voll gepfleg­ten Gar­ten. Sie lebt und arbei­tet hier mit ihrem Mann, dem Künst­ler und Gale­ri­sten Beat Iten. Das Haus war ein­mal das erste Schul­haus in Sins. Heu­te ist es ein Haus der Musen, das nicht ver­ge­bens in direk­ter Linie zur Kir­che steht.

Das Hun­ger­tuch ent­springt der Idee des Augenfastens

Den Auf­trag, für den Pasto­ral­raum ein eige­nes Hun­ger­tuch zu ent­wer­fen, erhielt Anne­mie Lie­der schon vor zwei Jah­ren von Pasto­ral­raum­pfar­rer Tho­mas Zim­mer­mann. «Die Idee mit dem Hun­ger­tuch ent­stammt ja eigent­lich der Volks­fröm­mig­keit, die in der Fasten­zeit auch ein Augen­fa­sten ein­führ­te, indem der Blick auf all das Gold vor­ne und auf den Altar selbst durch ein gros­ses Tuch ver­hin­dert wur­de», weiss der stu­dier­te Histo­ri­ker und Theo­lo­ge. «Im Bis­tum Kon­stanz zum Bei­spiel war es damals üblich, ein Pas­si­ons­bild auf das Tuch zu malen.» So ein Tuch woll­te Tho­mas Zim­mer­mann im Ober­frei­amt auch haben — als sicht­ba­res Zei­chen der Ver­bun­den­heit aller fünf ange­schlos­se­nen Pfar­rei­en des Pasto­ral­raums. Sei­ne Idee stiess bei allen Betei­lig­ten auf Anklang, und Anne­mie Lie­der mach­te sich mit Freu­de ans Werk.

«Was ist ein­fach und tut weh?»

«Ich habe spon­tan ja gesagt, als mich Tho­mas Zim­mer­mann ange­fragt hat», erin­nert sich die renom­mier­te Künst­le­rin, deren Stoff- und Web­bil­der, Zeich­nun­gen, Gemäl­de und Radie­run­gen schon viel­fach aus­ge­stellt und prä­miert wur­den. «Die ein­zi­ge Vor­ga­be, an die ich mich hal­ten soll­te, war, es soll­te ein­fach sein. Ich über­leg­te mir, weil es doch um die Fasten­zeit geht, was ist ein­fach und tut weh? So kam ich auf den Dor­nen­kranz.» Die ersten Skiz­zen dazu mach­te sie, wie immer, mit Blei­stift auf ihren Skiz­zen­block. Dann folg­ten ver­schie­de­ne Aus­füh­run­gen in diver­sen Mal- und Zei­chen­tech­ni­ken, bis sie, nach drei Mona­ten Arbeit, die Ver­si­on mit Farb­stift auf Papier als die defi­ni­ti­ve prä­sen­tie­ren konn­te.

«Man muss es aus­hal­ten können»

Wäh­rend der Fasten­zeit 2019 hing der Dor­nen­kranz von Anne­mie Lie­der zum ersten Mal als Hun­ger­tuch über den Altä­ren im Ober­frei­amt. Das Bild kam bei den Kirch­gän­gern so gut an, dass man sich im Pasto­ral­raum ent­schloss, es auch die­ses Jahr wie­der auf­zu­hän­gen. «Es ist ein ein­fa­ches, gut ver­ständ­li­ches Sym­bol», sagt Tho­mas Zim­mer­mann. «Über die Dor­nen­kro­ne kann man gut medi­tie­ren und gan­ze Got­tes­dien­ste damit gestal­ten. Man muss es aber auch aus­hal­ten kön­nen, wenn man sich fragt: wo stecken denn bei uns die Dor­nen?»Der Pasto­ral­raum­pfar­rer ist stolz auf das eige­ne Hun­ger­tuch des Obe­ren Frei­amts. Ein Aus­schnitt dar­aus ziert auch die Front des aktu­el­len Falt­blatts «Kir­che in der Fasten­zeit 2020», das die Akti­vi­tä­ten im Pasto­ral­raum von Ascher­mitt­woch bis Kar­sams­tag prä­sen­tiert. «Das Sujet des Dor­nen­kran­zes ist immer aktu­ell», sagt Tho­mas Zim­mer­mann. Es bedeu­te für ihn auch eine Wür­di­gung der Arbeit von Anne­mie Lie­der, wenn ihr Hun­ger­tuch auch die­ses und viel­leicht auch noch im näch­sten Jahr im Pasto­ral­raum auf­ge­hängt wer­de. «Sonst pas­siert immer das­sel­be: Man kauft ein Tuch und wirft es am Ende der Fasten­zeit womög­lich ein­fach weg.»

Eige­ne Sta­cheln erkennen

Für Anne­mie Lie­der war es ein gros­ser Moment, als sie das fer­ti­ge Hun­ger­tuch zum ersten Mal sah: «Da hat­te ich wirk­lich Herz­klop­fen.» Es war auch gar nicht so ein­fach, die zar­te Blei­stift­zeich­nung von knapp 50 mal 50 Zen­ti­me­tern auf ein Fah­nen­tuch von 2,35 auf 2,20 Meter auf­zu­zie­hen. «Ich muss­te lan­ge suchen, bis ich die Fir­ma Alpen­fah­nen in Woh­len fand. Da war man in der Lage, mei­ne Zeich­nung in die­ser Grös­se auf Stoff zu drucken.» Um das Tuch im gege­be­nen For­mat auch pas­send über dem Volks­al­tar zu prä­sen­tie­ren, muss­te teil­wei­se in den Kir­chen eine extra Auf­hän­ge­vor­rich­tung ein­ge­rich­tet wer­den.Und so hängt Anne­mie Lie­ders Dor­nen­kranz nun als Denk­an­stoss oder, noch bes­ser, als Gedan­ken­sta­chel über den Köp­fen der Gläu­bi­gen. Ein pik­sen­der Kreis ohne Anfang und Ende. Ein Sym­bol für die Sta­cheln, die jeder Mensch gegen ande­re ein­setzt, die er aber auch schmerz­haft am eige­nen Leib erfährt. Die Ber­be­rit­ze, die als Vor­la­ge für den Dor­nen­kranz dien­te, ist auch in Isra­el hei­misch. Ihre blut­ro­ten Bee­ren fin­den da unter ande­rem Ver­wen­dung in diver­sen Gerich­ten (Lese­tip: «Jeru­sa­lem: Das Koch­buch» von Sami Tami­mi und Yotam Otto­lenghi). Und wer weiss, ob es nicht genau so ein Strauch war, an dem sich die römi­schen Legio­nä­re an jenem ersten Kar­frei­tag bedienten…
Christian Breitschmid
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