Dieses Band, das uns alle verbindet

Dieses Band, das uns alle verbindet

Johannes 15,1.4–5«Ich bin der wahre Wein­stock und mein Vater ist der Winz­er … Bleibt in mir und ich bleibe in euch. Wie die Rebe aus sich keine Frucht brin­gen kann, son­dern nur, wenn sie am Wein­stock bleibt, so auch ihr, wenn ihr nicht in mir bleibt. Ich bin der Wein­stock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht.»Ein­heit­süber­set­zung 2016 

Dieses Band, das uns alle verbindet

In meinen jun­gen Jahren durfte ich für das «Konzil der Jugend» Reisen nach Osteu­ropa machen. Dieses Konzil hat­te die Gemein­schaft von Taizé aus­gerufen. Da wurde ein Begriff immer wieder genan­nt: Men­schheits­fam­i­lie. Das war für mich ein faszinieren­der Begriff. So haben viele junge Men­schen Reisen in alle Welt unter­nom­men, um auszu­drück­en, dass wir Men­schen zusam­menge­hören.«Bleibt in mir und ich bleibe in euch.»  Johannes 15,4In meinem Studi­um hörte ich den Begriff «Volk Gottes», der im Zweit­en Vatikanis­chen Konzil wichtig war und bleibt. Er begeis­terte mich. In ein­er Stu­di­en­ar­beit deutete ich ihn so, dass damit alle Men­schen gemeint seien, eben die Men­schheits­fam­i­lie. Doch der Dog­matikpro­fes­sor kor­rigierte mich, dass dieser Begriff nicht alle Juden, Chris­ten und Ander­s­gläu­bi­gen dieser Welt umfasse, son­dern für die Kirche ste­he. Ich war ent­täuscht.Ein Zusam­men­sein in klein­er Runde rief diese Erin­nerung kür­zlich in mir wach. Wir steck­ten zu dritt die Köpfe zusam­men – es war wohl die «Gnade» jen­er Stunde: Ein junger Mann aus Marokko war am Tisch. Er ist seit dem 13. Alter­s­jahr ohne Zuhause in Europa unter­wegs. Heute ist er 21 Jahre jung. Die Ikone im Kerzen­licht faszinierte ihn. Sein Kopf berührte den oberen Rand der Ikone. Neben mir ein junger Mann im The­olo­gi­es­tudi­um, 22-jährig, mein Prak­tikant. Er ist von den Begeg­nun­gen mit den Men­schen begeis­tert. Schön, wenn er in die Seel­sorge gehen würde. Ich, 64 Jahre alt, sass dem jun­gen Marokkan­er gegenüber. Er erzählte von ein­er anderen Welt, die wir nicht ken­nen. Da spürte ich wieder diese Ein­heit, die alle Men­schen miteinan­der verbindet, wenn wir uns nur darauf ein­lassen. So unter­schiedlich scheinen seine Wel­ten von den unseren: die Welt des Islam, die Flucht über das Mit­telmeer, die Rast­losigkeit in Europa ohne Ziel; dazu die Unter­schiede der Gen­er­a­tio­nen, der Erfahrun­gen, der Hoff­nun­gen und der Ent­täuschun­gen über das Leben … Und doch war da eine Ein­heit, die mich über­raschte, die Nähe der See­len, die Fre­undlichkeit und Dankbarkeit.«Bleibt in mir und ich bleibe in euch.»  Johannes 15,4So schrieb der Hl. Petrus Dami­ani: «Mag auch die heilige Kirche durch die Ver­schiedenar­tigkeit der Men­schen auseinan­der streben, so ist sie doch durch das Feuer des Heili­gen Geistes zu ein­er Ein­heit zusam­mengeschweisst … Mag sie auch … in Teile zer­fall­en, so kann das Mys­teri­um ihrer inner­sten Ein­heit … in kein­er Weise ver­let­zt wer­den.»Dieser Heilige lebte in Ein­samkeit in seinem Kloster Fonte Avel­lana in Mit­telital­ien. Er war oft unter­wegs und ver­mit­telte zwis­chen den ver­schiede­nen Wel­ten der Macht in Kirche und Poli­tik. Er pen­delte zwis­chen der Liebe zur Ein­samkeit und der Teil­nahme an den grossen Auseinan­der­set­zun­gen jen­er Zeit.Dieser uns alle verbindende Geist: Es gibt ihn tat­säch­lich, wenn wir uns nur darauf ein­lassen. Er ist tiefer als die Ent­täuschun­gen unseres Lebens, als unsere Ver­schiedenar­tigkeit. Ja, er ist tiefer als der Frust, tiefer als die Per­spek­tiven­losigkeit. Diese Ein­heit erfahren wir, wenn wir nicht viel reden, son­dern in die Augen des anderen schauen. Was auch immer mein Gegenüber sagt, es gibt mehr als das. Es ist tiefer als unsere Unter­schiedlichkeit. Diese Sichtweise ent­deck­en wir, wenn wir uns Zeit­en der Stille nehmen. Dann wach­sen in uns Dankbarkeit und Fre­undlichkeit. Wir find­en eine Bal­ance zwis­chen Allein­sein und Miteinan­der­sein, so unter­schiedlich wir auch sein mögen. Das Geheim­nis ist dieses innere Band zwis­chen dem Schöpfer und uns, das Band zwis­chen uns allen.Anna-Marie Fürst, The­olo­gin, arbeit­et in der Gefäng­nis­seel­sorge und in der Seel­sorge für Men­schen mit Behin­derung in den Kan­to­nen Aar­gau, Basel-Stadt und Zug 
Redaktion Lichtblick
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