Die Zigar­reu­sen im Niederdorf

Die Zür­cher Stadt­mis­si­on fei­ert ihre Grün­dung vor 150 Jah­ren mit einem neu­en Rund­gang durch die Alt­stadt. Der Rund­gang «Zuerst das Fres­sen, dann die Moral» gibt Ein­blick in die dunk­len Sei­ten des Ober- und Nie­der­dorfs von gestern und heute. 

Der Rund­gang beginnt in der Tor­gas­se, wo frü­her das Ober­dorf­tor stand. Durch die­ses betra­ten vie­le frem­de Hand­wer­ker die Stadt, um ihr Glück zu ver­su­chen. Vie­le stran­de­ten und lan­de­ten auf der Gas­se. Damals genoss der Ort einen schlech­ten Ruf. Er galt als arm und äus­serst dreckig.

Grün­dung. In die­sem Umfeld grün­de­ten rei­che Zür­cher, die der pie­ti­sti­schen Bewe­gung ange­hör­ten, 1847 die «Evan­ge­li­sche Gesell­schaft des Kan­tons Zürich» (EGKZ). Theo­lo­gisch ver­steht sich der Pie­tis­mus als eine Rück­be­sin­nung auf zen­tra­le Anlie­gen der Refor­ma­ti­on. Die Evan­ge­li­sche Gesell­schaft grün­de­te die Zür­cher Stadt­mis­si­on im Jahr 1862. Die­se folg­te mass­geb­lich einer Idee des deut­schen Theo­lo­gen Johann Hin­rich Wichern. Die­ser schuf «Her­ber­gen zur Hei­mat», wo dar­ben­de Wan­der-Hand­wer­ker eine «preis­gün­sti­ge Unter­kunft mit reli­giö­ser Betreu­ung» fan­den, wie Regu­la Rother, heu­ti­ge Lei­te­rin der Zür­cher Stadt­mis­si­on, beim Rund­gang erzählt. Das Erken­nungs­zei­chen der Her­ber­gen: Über dem Ein­gang Got­tes Hand, die mah­nend nach oben zeigt. Die Her­ber­ge in Zürich nimmt heu­te nicht mehr Wan­der­ar­bei­ter auf, son­dern Rand­stän­di­ge, also Men­schen, die auf der Gas­se leben, und ver­mit­telt auch Arbeits­stel­len. Platz hat es für fünf­zig Personen.

Hin­ter­tür. Auf dem Leu­en­plätz­li kommt Regu­la Rother auf ein heis­ses The­ma zu spre­chen: die Zigar­reu­sen von Zürich. Die­se Frau­en führ­ten ein Geschäft, in wel­chem alles Not­wen­di­ge für den Mann feil gebo­ten wur­den. Durch die­se Tarn­ge­schäf­te gelang­te der Mann in das dahin­ter­lie­gen­de Bor­dell, wel­ches er jeweils durch die Hin­ter­tür ver­liess. Nie­mand wuss­te, wie lan­ge der Herr im Geschäft geweilt hat­te. Das Leu­en­plätz­li beher­berg­te drei der­ar­ti­ge Ein­rich­tun­gen. Die Stadt­mis­si­on küm­mer­te sich schon früh um die­se Frau­en und gewähr­te auch «frei­es unent­gelt­li­ches Asyl für gefal­le­ne reu­mü­ti­ge Mäd­chen». Heu­te bemüht sich die Stadt­mis­si­on, an die «Mäd­chen» in den Bor­del­len und Salons her­an­zu­kom­men. Die­se wür­den von den Zuhäl­tern kurz gehal­ten und wüss­ten oft nichts über ihre Rech­te und die Mög­lich­kei­ten gesund­heit­li­cher Betreu­ung. Schwie­rig sei die Arbeit auch, weil die Stadt die Adres­sen der Frau­en wegen des Daten­schut­zes nicht herausrücke.

Para­dig­men­wech­sel. Für Gesprächs­stoff beim abschlies­sen­den Apé­ro im Café Yuc­ca, wo die Mis­si­on ihren Sitz hat, könn­te die Aus­sa­ge der Stadt­mis­si­on-Lei­te­rin sor­gen, sie habe es lie­ber, wenn Frau­en zu zweit im eige­nen Salon anschaff­ten statt in den Gross­bor­del­len der Stadt. So lern­ten sie wenig­stens Eigen­stän­dig­keit, sagt Regu­la Rother fast sar­ka­stisch und steckt den Strich­plan der Stadt Zürich wie­der in ihre Doku­men­ten­samm­lung zurück. Gera­de für die Stadt­mis­si­on, die in einem kon­ser­va­ti­ven kirch­li­chen Umfeld ent­stan­den ist, sei es nicht selbst­ver­ständ­lich gewe­sen, dass sie sich schon früh auf Pro­sti­tu­ier­ten-Pro­jek­te ein­liess, sagt Regu­la Rother. Die Stadt­mis­sio­na­re der Ver­gan­gen­heit konn­ten ihren hohen Anspruch jedoch kaum ein­lö­sen, aus den Pro­sti­tu­ier­ten «gute, tugend­haf­te Chri­stin­nen» zu machen. Heu­te gehe die Stadt­mis­si­on, zum Teil fast in Kon­kur­renz zu den Lan­des­kir­chen, mit einem viel rea­li­sti­sche­ren Ansatz an ihre Pro­jek­te her­an. So sei es für die Pro­sti­tu­ier­ten von zen­tra­ler Bedeu­tung, dass sie ihre Lebens- und Arbeits­ver­hält­nis­se kon­kret ver­bes­sern kön­nen.   Geor­ges Scher­rer, kipa

Der Rund­gang kann gebucht wer­den, auf Wunsch beglei­tet von einer Schau­spie­le­rin als Sän­ge­rin und Mime. www.stadtmission.ch

Redaktion Lichtblick
mehr zum Autor
nach
soben