«Die Wirk­lich­keit kommt vor der Idee»

Mit dem Doku­ment «Amo­ris lae­ti­tia» als Ergeb­nis aus zwei inten­si­ven Fami­li­en­syn­oden im Vati­kan legt Papst Fran­zis­kus in der Sicht von Bischof Felix Gmür einen längst fäl­li­gen Per­spek­ti­ven­wech­sel vor. Ein Gespräch über Got­tes­su­che, Fami­li­en und kirch­li­che Entwicklungen.Bischof Felix, ein Gedan­ken­spiel zu «Amo­ris lae­ti­tia»: Sie sind hete­ro­se­xu­ell und ver­hei­ra­tet und katho­lisch, was wür­den Sie von ihrer Kir­che erwarten? Felix Gmür, Bischof von Basel: Ich habe einen ande­ren Zugang zum The­ma. Erin­nern wir uns. War­um gab es die­se Fami­li­en­syn­ode, deren Ergeb­nis «Amo­ris lae­ti­tia» ist? Die Fami­li­en­syn­ode ist eine Frucht der Syn­ode über die Neue­van­ge­li­sie­rung und der Fra­ge, wie die­se ver­stärkt wer­den kann. Ich war an die­ser Syn­ode dabei. Man frag­te sich, wen die­se Neue­van­ge­li­sie­rung zunächst betrifft, und kam auf die Fami­lie. Die Freu­de, die in den Fami­li­en gelebt wird, ist auch die Freu­de der Kir­che. Das Gedan­ken­spiel müss­te also heis­sen: Wie kann ich als Fami­li­en­mit­glied in der Kir­che mei­nen Glau­ben leben? Und es geht nicht um die Fra­ge: Was erwar­te ich von der Kir­che? Das ist mir zu kon­su­mi­stisch. Son­dern: Wie lebe ich und gebe ich den Glau­ben wei­ter im 21. Jahr­hun­dert?Im 21. Jahr­hun­dert leben Hete­ro- und Homo­se­xu­el­le Men­schen in Bezie­hung. Und die Kir­che tut sich mit den Letz­te­ren schwer. Es geht um einen Per­spek­ti­ven­wech­sel. Kir­che gibt es doch, weil es die Fra­ge gibt, wie ich es schaf­fe, mei­nen Glau­ben zu ver­tie­fen und ihn zu leben. Und die Kir­che muss sich fra­gen, wie sie es schafft, die Men­schen auf die­sem Glau­bens­weg mit­zu­neh­men. Ihr Gedan­ken­spiel macht die Kir­che zu einer Moral­an­stalt, und Kir­che ist etwas ganz ande­res als eine Moral­an­stalt. Kir­che ist eine Gemein­schaft, die zusam­men Gott sucht.Aber es gibt sol­che, die füh­len sich von die­ser Gemein­schaft aus­ge­grenzt. Zuerst sind sie alle inte­griert, so Papst Fran­zis­kus. Er sagt: «Jeder Mensch ist ein Kind Got­tes, alle Men­schen sind Geschöp­fe Got­tes, also sind zuerst alle inte­griert.» Der Mensch soll nicht kate­go­ri­siert wer­den, wir neh­men den Men­schen so, wie er ist.Papst Fran­zis­kus sagt in «Amo­ris lae­ti­tia» auch, dass sich «die Kir­che wie Kon­trol­leu­re der Gna­de und nicht wie ihre För­de­rer» ver­hal­te. Das steht im Kapi­tel 8, davor gibt es aber die Kapi­tel 1 – 7.In den ersten Kapi­teln wird ein­drück­lich die sozia­le Rea­li­tät der Fami­li­en fest­ge­stellt und, wie Sie beto­nen, auch aus­ge­führt, dass alle Men­schen Kin­der Got­tes sind. Die Kir­che hat aber die­se Bot­schaft mit etwel­chen Abgren­zun­gen zu Wie­der­ver­hei­ra­te­ten Geschie­de­nen, schwu­len Paa­ren, Pre­digt­ver­bot für Lai­en­theo­lo­gen und Lai­en­theo­lo­gin­nen immer wie­der sel­ber tor­pe­diert. Es stimmt, im Lau­fe der Zeit hat eine star­ke Mora­li­sie­rung statt­ge­fun­den im Den­ken und in der Ver­kün­di­gung. Das hört man viel von der älte­ren Gene­ra­ti­on. Die Kir­che ist nicht unab­hän­gig von der Gesell­schaft zu den­ken, da wird auch alles nor­miert und gere­gelt und mit Sank­tio­nen ver­bun­den. Da ist die Kir­che im Sog von der Gesell­schaft und die Gesell­schaft im Sog der Kir­che. In die­sem Sog hat man ein Käst­chen­den­ken ent­wickelt. Die neue Per­spek­ti­ve bringt hin­ge­gen kei­ne star­ren neu­en Regeln. Das neue Kri­te­ri­um ist Barm­her­zig­keit. Gott hat jeden Men­schen gern.Sie begei­stert die­ser Per­spek­ti­ven­wech­sel? Mich freut, dass die­ser Per­spek­ti­ven­wech­sel mit «Amo­ris lae­ti­tia» wie­der ins Bewusst­sein der Kir­che kommt. Die­se Per­spek­ti­ve hat es immer gege­ben, sie ist aber etwas ver­ges­sen gegan­gen. Die recht­li­che, die mora­li­sie­ren­de Sicht­wei­se hat­te Über­hang bekom­men in der Wahr­neh­mung vie­ler Chri­stin­nen und Chri­sten. Jetzt aber kommt die eigent­li­che Per­spek­ti­ve wie­der zum Zug. Das fin­de ich wich­tig, und es ent­spricht auch mehr mei­ner Spi­ri­tua­li­tät.Was bedeu­tet die­ser Per­spek­ti­ven­wech­sel für die Pasto­ral? Noch­mals, weil es mir wich­tig ist: Aus­gangs­punkt ist die Neue­van­ge­li­sie­rung. Der sozia­le Ort, wo die­se beginnt und wirk­sam wird, ist die Fami­lie. Dar­über habe ich an diver­sen Tref­fen mit den Seel­sor­ge­rin­nen und Seel­sor­gern gespro­chen. Die­se ken­nen ihre Gläu­bi­gen, ken­nen ihre Freu­den und Nöte. Papst Fran­zis­kus sagt: «Die Wirk­lich­keit kommt vor der Idee». Das ver­än­dert die Pasto­ral vor Ort.Aller­dings sind, gut gerech­net, noch etwas 15% der Kir­chen­steu­er­zah­len­den in Pfar­rei­en aktiv. Hat die Kir­che mit die­sem Per­spek­ti­ven­wech­sel bei den ande­ren 85% eine Chan­ce? Natür­lich haben wir eine Chan­ce. Wir haben super Orte. Da ist eine Kir­che, ein Pfar­rei­heim, und man weiss, was da pas­siert. Die­se Orte kön­nen Orte wer­den, die aus­strah­len, wenn die Men­schen, die sich inter­es­sie­ren, da zusam­men­kom­men, wenn sich Fami­li­en an einem Ort ver­sam­meln oder die Senio­ren. Oder ich den­ke an die Ehe­paa­re, die ihren 50. Hoch­zeits­tag fei­ern. Die laden wir ein­mal im Jahr ein, da sind jeweils mehr als 1000 Men­schen in der Kir­che, das hat auch eine Aus­strah­lung. Man muss nicht alles zur glei­chen Zeit und über­all machen, aber sol­che Fei­ern wir­ken nach.Papst Fran­zis­kus ruft die eigent­li­che Bot­schaft der Kir­che in Erin­ne­rung und meint, nicht nur die Gesell­schaft, auch die Kir­che selbst habe sie ver­ges­sen. Das hat doch was Trau­ri­ges. Kir­che ist unter ande­rem eine sozi­al ver­fass­te Gemein­schaft. Und eine sol­che geht manch­mal etwas lang­sa­mer oder schnel­ler vor­wärts. Plötz­lich kann sie extrem schnel­le Schrit­te machen. Neh­men wir das The­ma «Bewah­rung der Schöp­fung». Da war die Kir­che schon anno 1989 zum The­ma Öko­lo­gie Vor­rei­te­rin und die Gesell­schaft hink­te hin­ten­drein. Erst in die­sem Jahr kommt die Abstim­mung über den Atom­aus­stieg. Die Kir­che kann in gewis­sen Fra­gen viel schnel­ler sein als ande­re.In der Fra­ge der Aner­ken­nung gleich­ge­schlecht­li­chen Part­ner­schaf­ten ist der Staat Vorreiter. Wie mei­nen Sie das?Eini­ge Staa­ten aner­ken­nen schwu­le Ehen. Man muss unter­schei­den: Es gibt ein­ge­tra­ge­ne Part­ner­schaf­ten und es gibt eine Hei­rat von gleich­ge­schlecht­li­chen Part­nern. Und bei der letz­ten Form sagt die Kir­che, dass sie nicht das glei­che ist wie eine Ehe zwi­schen Mann und Frau. Es ist etwas ande­res. In die­ser Fra­ge macht «Amo­ris lae­ti­tia» weder Türen zu noch auf. Vom Glau­ben her zu sagen, so oder so ist es von Gott end­gül­tig gedacht, das wäre zu über­stürzt. Die Kir­che soll die Wis­sen­schaft for­schen las­sen in die­ser Fra­ge und sich auch Zeit las­sen. Viel­leicht gibt es ja neue Erkennt­nis­se.Kon­kret: Wür­den Sie ein gleich­ge­schlecht­li­ches Paar seg­nen? Wenn ein sol­ches Paar anfragt, wür­de ich zuerst mit ihnen spre­chen, über ihren Glau­ben, ihre Plä­ne. Jedem Men­schen wird von der Kir­che Segen zuge­spro­chen, das wür­de ich also schon am Anfang machen.Und einer Segens­fei­er wür­den Sie vor­ste­hen, wenn ein Paar das wünscht? Ich wur­de bis­her ein­mal von einem Paar ange­fragt. Ich lud sie zum Gespräch ein, sie nah­men die­se Ein­la­dung dann aber nicht an. Wich­tig ist, dass die Seel­sor­gen­den vor Ort das genau abklä­ren, und zwar im Span­nungs­feld, was ein sol­ches Paar wünscht und wie das mit dem Norm­an­spruch der Kir­che in Ein­klang gebracht wer­den kann und dem Gewis­sen des Seel­sor­gers sel­ber.Hat die­ser Per­spek­ti­ven­wech­sel von «Amo­ris lae­ti­tia» auch Ihr Ver­hal­ten ver­än­dert? Ja. Mir ist zum Bei­spiel mei­ne Bischofs­wei­he in den Sinn gekom­men. Da gibt es neun Fra­gen, die man als Kan­di­dat beant­wor­ten muss. Eine ist: Bist du bereit, den Men­schen und vor allem den Armen mit Barm­her­zig­keit zu begeg­nen? Die­se Fra­ge spielt in mei­nem All­tag wie­der eine grös­se­re Rol­le. Zudem: Papst Fran­zis­kus betont in Nr. 3, dass durch das Schrei­ben nicht alle pasto­ra­len und kir­chen­recht­li­chen Fra­gen gelöst wer­den. Das Schrei­ben soll uns Zeit geben für die Ent­wick­lung und Aus­ein­an­der­set­zung. Die­se Zeit neh­me ich mir.Näch­stes Jahr setzt sich die Schwei­zer Bischofs­kon­fe­renz mit «Amo­ris lae­ti­tia» ver­tieft aus­ein­an­der. Was erwar­ten Sie von die­sem Stu­di­en­tag? Es wer­den ver­schie­de­ne Exper­ten zu die­ser Tagung gela­den. Ich bin an den Vor­be­rei­tun­gen nicht betei­ligt. Ich ken­ne das Skript also nicht im Detail. Wir sehen dann, ob die Bischö­fe noch einen eige­nen Input dazu ver­fas­sen wol­len und was sie in ihren Bis­tü­mern umset­zen wer­den. Im Bis­tum Basel haben wir schon ange­fan­gen, weil wir auch sel­ber Ideen haben.Wo steht die Kir­che mit die­sem Per­spek­ti­ven­wech­sel in 25 Jah­ren? Wird mit einem neu­en Papst viel­leicht wie­der alles anders? Ich kann nicht in die Zukunft schau­en. Die Kern­fra­ge ist doch: Wie steht es um den christ­li­chen Glau­ben in 25 Jah­ren in unse­ren Pasto­ral­räu­men? Was ich aber sagen kann: Die Kir­che wird in vie­lem anders sein, und zumin­dest sind dann sicher alle Pasto­ral­räu­me errichtet. 
Andreas C. Müller
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