«Die Ver­ant­wort­li­chen müs­sen ihre Haus­auf­ga­ben machen»

  • Eine erste Hür­de ist mit dem Pilot­pro­jekt zur Geschich­te des sexu­el­len Miss­brauchs in der katho­li­schen Kir­che der Schweiz genommen.
  • Die Histo­ri­ke­rin­nen wol­len den Betrof­fe­nen, die kei­ne Stim­me haben, eine Stim­me geben.
  • Nach der Ver­öf­fent­li­chung des Berichts kön­ne das The­ma auch in der Schweiz nicht mehr igno­riert werden.

Gibt es etwas in der Pilot­stu­die, das Sie per­sön­lich beson­ders betrof­fen gemacht hat?

Dom­mann: Als Histo­ri­ke­rin­nen gehen wir mit einem bestimm­ten Blick und einer bestimm­ten Hal­tung an unse­re Quel­len. Wir arbei­ten ergeb­nis­of­fen. Dar­um hat Betrof­fen­heit bei der Arbeit kei­nen Platz.

Mei­er: Über unse­re Gefüh­le tau­schen wir uns aber den­noch aus. Das ist der Vor­teil, wenn wir als Team arbei­ten. Wir hat­ten zudem einen Work­shop mit Exper­tin­nen und Exper­ten aus der Trau­ma­for­schung. Und für das Fol­ge­pro­jekt haben wir eine Super­vi­si­on budgetiert.

Was inter­es­siert Sie an die­sem Forschungsprojekt?

Dom­mann: Mari­et­ta Mei­er und ich sind in einem Alter, in dem wir schon vie­le Pro­jek­te gemacht, viel erlebt und vie­le Erfah­run­gen gesam­melt haben. Dass das vor­lie­gen­de Pro­jekt schwie­rig ist, hat uns her­aus­ge­for­dert. Wir sind über­zeugt, dass die histo­ri­sche Her­an­ge­hens­wei­se einen wich­ti­gen gesell­schaft­li­chen Bei­trag lei­sten kann. Einer­seits weiss ich, dass wir die­se histo­ri­sche Auf­ga­be mit unse­ren Kom­pe­ten­zen lösen kön­nen und ande­rer­seits, dass wir Men­schen, die betrof­fen sind, aber kei­ne Stim­me haben, eine Stim­me geben.

Wel­che Vor­tei­le bringt die histo­ri­sche Methode?

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Dom­mann: Die histo­ri­sche Metho­de besteht dar­in, dass wir eine gros­se Men­ge von Akten durch­se­hen und die­se dann auf­ein­an­der bezie­hen. Das gibt uns Hin­wei­se auf über­ge­ord­ne­te Struk­tu­ren. Eini­ge der Lücken, die wir bei den schrift­li­chen Quel­len gefun­den haben, kön­nen wir durch münd­li­che schlies­sen. Die histo­ri­sche Metho­de ist dar­um beson­ders stark, weil sie mul­ti­per­spek­ti­visch ist. Man kann sich das vor­stel­len wie ver­schie­de­ne Objek­ti­ve ver­schie­de­ner Kame­ras, die aus ver­schie­de­nen Win­keln auf ein Objekt gerich­tet sind. Jede zeigt eine ande­re Ansicht. Schliess­lich berück­sich­ti­gen wir auch den Kon­text. Wir fra­gen nach dem Umfeld, nach der Zeit, nach der Kul­tur und Men­ta­li­tät, nach den recht­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen, in der sich die Ereig­nis­se abge­spielt haben. Wie war die Gesell­schaft orga­ni­siert? Wie waren die Hand­lungs­spiel­räu­me der Men­schen? Die Berück­sich­ti­gung der Quel­len, der ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven und des Kon­texts machen die histo­ri­sche Metho­de aus.

Mei­er: Wich­tig sind auch die Gren­zen unse­rer Dis­zi­plin. Wir machen zum Bei­spiel kei­ne psy­cho­lo­gi­sche For­schung zu Täter­pro­fi­len, oder stel­len kei­ne juri­sti­schen Fragen.

Wie kommt es zu Spu­ren der Miss­bräu­che in den Akten der Kirche?

Dom­mann: Das kano­ni­sche Recht sieht vor, dass bei einer Ermitt­lung, Akten ange­legt wer­den müs­sen und wann sie ver­nich­tet wer­den sol­len: wenn die Ange­klag­ten ver­stor­ben sind oder wenn zehn Jah­re nach der Ver­ur­tei­lung ver­gan­gen sind. Ein Archiv ist nichts Zufäl­li­ges. An den Archi­ven kann man den Cha­rak­ter einer Orga­ni­sa­ti­on ablesen.

Wel­chen Cha­rak­ter lesen sie bei den Archi­ven der katho­li­schen Kir­che ab?

Dom­mann: Am Anfang haben wir gedacht, dass die Kir­che top down von Rom aus funk­tio­niert. Das stimmt in gewis­ser Hin­sicht. Aber gleich­zei­tig ist sie poly­zen­trisch. Es gibt ver­schie­de­ne Zen­tren und ver­schie­de­ne Orga­ni­sa­tio­nen inner­halb der katho­li­schen Kir­che der Schweiz.

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Ist es Stan­dard, dass For­schen­de mit den Auf­trag­ge­be­rin­nen einen Ver­trag schlies­sen, um unein­ge­schränk­ten Zugang zu den Quel­len zu bekommen?

Mei­er: Nein, das ist nicht Stan­dard aber Best Practice.

Dom­mann: Unser unein­ge­schränk­ter Zugang ist für die Kir­che ein Glücks­fall, weil wir damit unab­hän­gig for­schen kön­nen und sie eine unab­hän­gi­ge Stu­die erhal­ten. Eben­falls posi­tiv wirkt sich die Zusam­men­ar­beit mit der Schwei­ze­ri­schen Gesell­schaft für Geschich­te aus. Etwa durch den von ihr zusam­men­ge­stell­ten Bei­rat. Die­ser hat eine gros­se Exper­ti­se aus ver­schie­de­nen Dis­zi­pli­nen ein­ge­bracht. Gute Wis­sen­schaft – das gilt für alle Wis­sen­schaf­ten – ist arbeits­tei­lig. Die For­schen­den schau­en sich gegen­sei­tig auf die Fin­ger, um best­mög­li­che Resul­ta­te zu erzielen.

Mei­er: Unse­re Stu­die ist pio­nier­haft, weil wir die gan­ze Schweiz mit all ihren Bis­tü­mern unter­su­chen. Und dass wir unse­ren Fokus neben den Min­der­jäh­ri­gen, auch auf erwach­se­ne Betrof­fe­ne richten.

Gibt es Akteu­rin­nen und Akteu­re, die Sie anfäng­lich nicht im Blick hatten?

Dom­mann: Die Nun­tia­tur in Bern. Als wir begon­nen haben, die Abläu­fe zu ver­ste­hen, die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ka­nä­le zwi­schen den Bis­tü­mern und dem Vati­kan, da sind wir plötz­lich auf die Nun­tia­tur gestos­sen. Es wäre für uns sehr wich­tig, Ein­sicht in die Akten dort zu bekommen.

Teil­nah­me an der Studie

Per­so­nen, die im Rah­men des For­schungs­pro­jekts über sexu­el­len Miss­brauch im Umfeld der katho­li­schen Kir­che berich­ten möch­ten, mel­den sich bit­te unter:

Ist die abschlä­gi­ge Ant­wort der Nun­tia­tur eine gros­se Irritation?

Dom­mann: Das gehört zum For­schungs­pro­zess und ist über­haupt nicht unüb­lich. Wir über­le­gen in sol­chen Situa­tio­nen, wie wich­tig uns eine kon­kre­te Anfra­ge ist, dann ver­han­deln wir oder ver­su­chen allen­falls sie uns gericht­lich zu erstrei­ten. Die Akten der Nun­tia­tur stu­fen wir als sehr wich­tig ein.

Sie emp­feh­len den­noch, eine sozio­lo­gisch ange­leg­te, quan­ti­ta­ti­ve Unter­su­chung zu machen. Was ver­spre­chen Sie sich davon?

Dom­mann: Mit den reprä­sen­ta­ti­ven Umfra­gen der Sozi­al­wis­sen­schaft wer­den Daten erho­ben, die sta­ti­stisch aus­ge­wer­tet wer­den. Dar­aus kön­nen gesamt­ge­sell­schaft­li­che Aus­sa­gen gemacht wer­den. In der fran­zö­si­schen Stu­die etwa wur­den Umfra­gen gemacht zu sexu­el­lem Miss­brauch in der Gesamt­ge­sell­schaft und im Ver­gleich dazu in der katho­li­schen Kirche.

Neben den Ver­hält­nis­sen und den Ver­glei­chen, wor­auf legen Sie den Fokus? 

Dom­mann: Auf die Struk­tu­ren, auf die Mecha­nis­men, sozu­sa­gen auf die Ana­to­mie die­ses Miss­brauchs in der katho­li­schen Kir­che. Die Mecha­nis­men beinhal­ten die Men­ta­li­tä­ten und die gesell­schaft­li­che Ord­nung inner­halb der Organisation.

In dem Zusam­men­hang ist auch vom Milieu die Rede, das Miss­brauch begünstigt. 

Mei­er: Das Milieu, das wir erfor­schen, bil­det den Rah­men oder den Kon­text, den wir beleuch­ten müs­sen, damit wir die Gewalt, die Auto­ri­täts­ver­hält­nis­se, das Ver­schwei­gen und Tabui­sie­ren bes­ser ver­ste­hen können.

Dom­mann: Inter­es­sant ist, dass sich auch das katho­li­sche Milieu in unse­rem Unter­su­chungs­zeit­raum – nach dem Zwei­ten Welt­krieg bis heu­te – ver­än­dert hat. Kaum jemand lebt heu­te noch in einem aus­schliess­lich katho­lisch gepräg­ten Refe­renz­rah­men. Men­schen haben die Mög­lich­keit, zu ver­glei­chen und fest­zu­stel­len, ob Behaup­tun­gen eines Milieus wahr sein kön­nen. Mit dem Auf­bre­chen des katho­li­schen Milieus wird die Bereit­schaft grös­ser, über sexu­el­len Miss­brauch zu spre­chen, dar­über medi­al zu berich­ten, wor­auf sich mehr Betrof­fe­ne mel­den wer­den. An der Medi­en­kon­fe­renz zur Stu­die war die­se Ver­än­de­rung spür­bar: Mit der Stu­die ist etwas ent­stan­den, dass wir von jetzt an nicht mehr igno­rie­ren kön­nen. Damit wur­de klar, dass wir jetzt auch in der Schweiz an einem Punkt sind, wo die ent­spre­chen­den Ver­ant­wort­li­chen ihre Haus­auf­ga­ben machen müs­sen. Die­se Haus­auf­ga­ben kön­nen wir als Histo­ri­ke­rin­nen nicht übernehmen.

Ist das soge­nann­te katho­li­sche Milieu mit all sei­nen Spe­zi­fi­ka aus­ser­ge­wöhn­lich? Kurios?

Dom­mann: Es ist ganz wich­tig, den Katho­li­zis­mus nicht dar­zu­stel­len, als sei die­ses Milieu beson­ders exo­tisch. Schlim­mer noch, ihn zu dämo­ni­sie­ren. Das ist eine Fal­le, in die wir nicht tap­pen dür­fen. Um erhär­te­te Aus­sa­gen zu tref­fen, braucht es unbe­dingt ver­glei­chen­de For­schung zu ande­ren reli­giö­sen Milieus – und da ste­hen wir erst am Anfang.

Konn­ten Sie sich im Rah­men Ihrer For­schung auf das Wort kirch­li­cher Ver­ant­wor­tungs­trä­ger verlassen?

Mei­er: Aus genau die­ser Über­le­gung her­aus haben wir ein ein­jäh­ri­ges Pilot­pro­jekt gemacht – weil wir das testen woll­ten. Wir haben gete­stet, ob wir unab­hän­gig for­schen kön­nen. Das hat sich bestätigt.

Wel­chen Bei­trag kann Wis­sen­schaft zur Auf­ar­bei­tung leisten?

Mei­er: Wis­sen­schaft­le­rin­nen schau­en mit einem Blick von aus­sen. Das ist banal, aber zen­tral. Und die­ser Blick von aus­sen unter­schei­det sich von dem einer Betrof­fe­nen­or­ga­ni­sa­tio­nen oder der Medien.

Dom­mann: Unser Bei­trag ist die Bestan­des­auf­nah­me. Wir sind über­zeugt, dass wir für wei­te­re For­schun­gen in ver­schie­de­nen Dis­zi­pli­nen eine gute Basis legen. Wir machen Pio­nie­rin­nen-Arbeit und wie bei einem Rhi­zom soll unse­re For­schung weiterwachsen.

Wel­chen Stel­len­wert hat der Zöli­bat und das Frau­en­prie­ster­tum in ihrer Forschung?

Dom­mann: Das sind offe­ne For­schungs­fra­gen. Wir brau­chen dazu belast­ba­re Fak­ten. Um die­se Fra­gen beant­wor­ten zu kön­nen, müs­sen wir mit Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten ver­glei­chen kön­nen, die nicht nur das Män­ner­prie­ster­tum kennen.

Mei­er: Das The­men­feld katho­li­sche Kir­che und sexu­el­ler Miss­brauch muss aus einer geschlech­ter­ge­schicht­li­chen Per­spek­ti­ve ange­schaut wer­den. Da spielt die Rol­le von Frau­en und die vor­han­de­nen Geschlech­ter­bil­der eine wesent­li­che Rolle.

Mit Blick auf die Zukunft: Wie erwei­tern Sie ihre Forschung?

Mei­er: Wir ergän­zen sie mit der inter­na­tio­na­len Per­spek­ti­ve. Und wir wol­len unse­re Daten­ba­sis erwei­tern. Wir hof­fen, dass wei­te­re Mel­dun­gen bei uns ein­ge­hen. Das müs­sen nicht Betrof­fe­ne selbst sein, das kann eine Schwe­ster oder eine Freun­din, der Vater oder ein Gemein­de­mit­glied sein. Wir möch­ten das Mit­wis­ser­tum bes­ser ver­ste­hen, das zum Ver­schwei­gen und Ver­tu­schen gehört.

Eva Meienberg
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