«Die Seelsorge war immer der Kern meiner Arbeit»
- Der Seelsorger Thomas Jenelten ist in Pension gegangen.
- Einst war er der erste nicht geweihte Leiter der Pfarrei St. Peter und Paul in Aarau.
- Der Theologe schaut zurück ohne Bedauern, mit radikalen Ideen und einer guten Portion Humor.
Sie sind schon fast in Pension. Wie haben Sie als Ritual-Experte den Übergang ins Pensionsalter gestaltet?
Thomas Jenelten: Wenn der Abschied würdig gestaltet ist, gelingt er besser. Ich bin ein Glückspilz! Sowohl im Pflegezentrum als auch bei der Polizeiseelsorge wurde meine Arbeit sehr gewürdigt. Bei der Vereinigung der Aargauer Gemeindepolizisten sind sogar Tränen geflossen. Meine letzte Amtshandlung wird sein, dass ich am 2. Mai meine Schutzweste, die ich immer bei den Einsätzen getragen habe, zurückgeben werde.
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Haben Sie Sorgen, dass die Arbeit ohne Sie weniger gut laufen wird?
Ich habe nicht die Idee, dass irgendjemand irgendetwas so weitermachen muss, wie ich das gemacht habe. Ich kann meine Arbeit loslassen.
Beginnt jetzt ein neues Leben für Sie?
Nein, bis jetzt ist nichts Neues passiert in meinem Leben. Meine Arbeit als Präsident von Alzheimer Aargau geht weiter und ich betreue weiterhin zwei Angehörigengruppen von Menschen mit Alzheimer. Ich merke erst jetzt, wie sehr mich die ehrenamtliche Arbeit in Anspruch nimmt. Ich fühle mich noch nicht pensioniert.
Möchten Sie denn, dass es sich so anfühlt?
Bis jetzt stimmt der schrittweise Ausstieg für mich. Nur manchmal habe ich das Bedürfnis, dass alle Arbeit wegfällt und ich frei bin.
Sie haben sich in den vergangenen zehn Jahren stark mit dem Thema Demenz beschäftigt. Wie geht die Gesellschaft damit um?
Demenz ist ein Tabu-Thema. Die Gesellschaft kann oder will nicht damit umgehen. Menschen mit einer Alzheimer-Diagnose hüten sich davor, dies anderen zu erzählen, weil sie dann abgestempelt werden. Sofort steht die Frage im Raum, ob ein Leben mit Demenz noch lebenswert sei. Das ist hart für die Betroffenen und die Angehörigen.
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Was bedeutet ein Leben mit Demenz?
Fähigkeiten schwinden: die Vergesslichkeit nimmt zu, die Orientierung wird schwierig, die kognitiven Fähigkeiten nehmen ab. Das ist sehr hart, lässt sich aber besser ertragen, wenn das Umfeld die Krankheit mitträgt. Es gibt aber auch Bereiche, die von der Krankheit weniger betroffen sind. Wenn ich Gottesdienst gefeiert habe, haben die Menschen mit einer Demenzerkrankung ebenso von der Feier profitiert, wie Menschen ohne Demenz. Die gewohnten Rituale, die Musik haben dabei geholfen.
Kommen gläubige Menschen besser mit ihrem Schicksal zurecht als Menschen, die nicht gläubig sind?
Nein. Auch im Pflegezentrum hatte ich nicht den Eindruck, dass gläubige Menschen leichter sterben. Aber ich denke, dass Menschen mit einem Urvertrauen, das sie bekommen haben und an dem sie vielleicht auch gearbeitet haben, es diesbezüglich einfacher haben. In schwierigen Situationen sind sie in der Lage zu sagen: Es ist gut, wie es ist.
Sind Sie gläubig?
Ich verfüge über ein Urvertrauen und ich glaube, dass das Leben Sinn macht. Ich komme in meinem Leben ohne den Begriff «Gott» aus. Aber wenn ich zum Beispiel auf einem Berg stehe, adressiere ich meine Dankbarkeit am ehesten an einen geheimnisvollen Gott, wie ich ihn in der Liturgie nenne, den ich mir aber nicht vorstelle.
Wann haben Sie sich entschieden Theologie zu studieren?
Das habe ich schon am Anfang der Mittelschulzeit entschieden. Ich wollte etwas mit Menschen machen. Im Rückblick ist immer die Seelsorge der Kern meiner Arbeit gewesen. Damals wollte ich ausserdem überprüfen, ob das, was auf der Kanzel erzählt wird, einlöst, was es verspricht.
Würden Sie wieder Theologie studieren?
Ja. Ich bereue meinen Entscheid nicht. Ich habe mich damals zwischen Medizin und Theologie entschieden. Hätte ich Medizin gewählt, wäre auch das eine gute Wahl gewesen.
Sowohl die Kirche als auch die Medizin ist sehr hierarchisch organisiert. Haben Sie das gesucht?
Nein, ich habe eine anarchische Seite in mir. Insofern war es wohl besser, dass ich in den kirchlichen Strukturen gelandet bin, die sich als recht beweglich gezeigt haben.
Biografie
Thomas Jenelten ist 1959 in Visp geboren. Er war der Zweitälteste von vier Kindern. Im Oberwallis katholisch sozialisiert, hat er das Kollegium Spiritus Sanctus in Brig besucht und anschliessend in Fribourg Theologie studiert. Nach dem Studium hat er als Seelsorger in Murten, Aarburg und schliesslich in Aarau gearbeitet, wo er in St. Peter und Paul während 15 Jahren als erster nicht geweihter Mann die Gemeinde leitete. Zuvor hat der Theologe während fünf Jahren bei der Caritas Aargau den Bereich Animation und Bildung geleitet und eine Ausbildung als Organisationsberater absolviert. Er war Mitglied beim Care-Team Aargau. Ab 2010 arbeitete Thomas Jenelten als Polizeiseelsorger. 2013 trat er die Stelle als Seelsorger im Pflegezentrum Baden an. Er ist Präsident von Alzheimer Aargau und Dozent an der Akademie für Achtsamkeit in Lenzburg. Von Thomas Jenelten sind zahlreiche Gedichtbände erschienen.
Haben Sie sich überlegt, Priester zu werden?
Der Zölibat und die Gehorsamsverpflichtung entsprechen mir nicht. Ich habe den Entscheid während meines Studiums immer offengelassen aber zu jedem Zeitpunkt hätte ich mich dagegen entschieden.
Sie sind Dozent an der Akademie für Achtsamkeit. Warum wurde dieses Thema für Sie wichtig?
Mir tut das Achtsamkeitstraining gut. Mir helfen Techniken, wie etwa das achtsame Yoga, um herunterzufahren und um präzise wahrzunehmen. Achtsamkeit bedeutet für mich: Wahrnehmen, ohne zu bewerten und ohne in Aktivismus zu verfallen, Dinge erst einmal stehen lassen. Wenn mir jemand von einem Angehörigen erzählt, der dement wird, dann kann ich das erstmal so stehen lassen und sagen, dass ich das traurig finde.
Sie schreiben seit 50 Jahren Tagebuch. Warum haben Sie damals begonnen?
Das Tagebuchschreiben habe ich gebraucht, um Situationen zu klären. Ich konnte mich aus schwierigen Situationen herausschreiben, um am Ende bei einem Bild zu landen, das mir hilft. Aus den Tagebuchtexten sind viele meiner Gedichte entstanden.
Ich stelle Ihnen drei Fragen aus dem Tagebuch von Max Frisch: «Was erhoffen Sie sich vom Reisen?»
Ich habe mir bei meinen Reisen nichts erhofft, aber es ist immer etwas passiert. Ich war einige Male in Tansania, wo die Pfarrei Peter und Paul in Aarau ein Heim für kognitivbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche unterstützt hat. Ich habe bei diesem Projekt viele Möglichkeiten zur Verbesserung gesehen und war jeweils enttäuscht, wenn sich seit meinem letzten Besuch nichts verändert hatte. Dann habe ich gemerkt, dass die Kinder und Jugendlichen dennoch gut betreut waren. Bis zu meinen Reisen nach Tansania hielt ich mich für gesellschafts- und fortschrittskritisch, um dann zu merken, dass auch ich dieser Entwicklungslogik anhänge.
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Was haben Sie noch gelernt?
Als ich einmal in einen Fettnapf getreten bin, waren es Mittelsmänner, die mich darauf aufmerksam gemacht haben. Mir wurde beigebracht, dass es richtig ist, Konflikte direkt auszutragen. Das haben die Menschen dort anders gesehen. Ausserdem habe ich in Tansania erfahren, dass nicht immer alles schnell gehen muss. In der Seelsorge im Pflegezentrum haben mich die Patientinnen und Patienten manchmal daran erinnert, dass im Pflegezentrum der afrikanische Gang angebracht wäre, um nicht an den Menschen vorbeizurauschen.
Zweite Max Frisch-Frage: «Was ertragen Sie nur mit Humor?»
Viel! Die kirchliche Hierarchie, und zwar die pastorale wie auch die staatskirchenrechtliche. Die selbsternannten Päpste hier und dort ertrage ich nur mit Humor.
Ich leite zwei Gruppen von Angehörigen von an Demenz erkrankten Menschen. Wir lachen viel zusammen, auch wenn das Thema schwer ist. Mit Humor lässt sich das Schwere aushalten, auch indem wir es gemeinsam tragen. Das heisst aber nicht, dass ich das Schwere nicht ernst nehme oder dass ich zynisch werde.
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Wie haben Sie es geschafft, kein Zyniker zu werden?
Ich habe mich dazu entschieden, nicht zynisch zu werden. Viktor Frankl, der das Konzentrationslager überlebt hatte, sagte es so: «Einer der letzten menschlichen Freiheiten ist, seine Einstellung unter welchen Umständen auch immer frei wählen zu können.» Wenn ich merke, dass ich in einen kritischen Zustand komme, nehme ich mir täglich Zeit, um mindestens drei Dinge aufzuschreiben, für die ich dankbar bin. Dankbarkeit hilft gegen Zynismus.
Die letzte Max Frisch-Frage: «Welche Hoffnung haben Sie aufgegeben?»
Ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass die westeuropäische Kirche in ihrer jetzigen Gestalt eine Zukunft hat. Das tut mir aber nicht weh, weil diese Hoffnung nicht wichtig ist.
Sie haben sich zum Organisationsberater weitergebildet. Was raten Sie den Bischöfen im Hinblick auf die Organisation der Kirche?
(Überlegt lange) Ich bin nicht der Mensch, der Ratschläge erteilt.
Anders gefragt: Welche Ideen hätten Sie für die Organisationsentwicklung?
Meine Ausgangsfrage wäre: Was braucht die Schweizer Bevölkerung? Ich gehe davon aus, dass die Bevölkerung im Moment weniger eine Institution braucht, als mehr Zuversicht, Hoffnung, Sinnhaftigkeit. Die Frage ist also, wie wir dahin kommen.
Indem wir in der Kirche die ganzen Instrumente des «New Public Management» übernommen haben, haben wir sie verbürokratisiert. Die Bürokratie bindet Kräfte und Geld. Die Angebotspalette wird immer schräger und plakativer und bedient vor allem das Kulturchristentum.
Was würden Sie anstelle vorschlagen?
Ich glaube, in der Kirche braucht es Menschen, die Hoffnung und Zuversicht glaubwürdig vertreten. Wir brauchen Weggemeinschaften. Eine Institution zu erhalten, macht für mich keinen Sinn. Ich bin mir bewusst, dass ich meine Arbeit, die ich nun fast 40 Jahre gemacht habe, innerhalb der kirchlichen Strukturen geleistet habe. Aber ich bin in dieser Zeit auch zur Einsicht gekommen, dass die Frage nach dem Sinn der Kirche zu wenig radikal gestellt wird und dass die Möglichkeit, freier zu denken in der Kirchenführung nicht gegeben ist.
Was denken Sie über den synodalen Prozess in der Schweiz?
Ich traue dem nicht viel zu. Für einzelne Menschen mag dieser bedeutungsvoll sein aber mit dem Synodalen Prozess wird sich die Katholische Kirche der Schweiz nicht neu orientieren. Den Kirchen laufen die Leute davon und eine Mehrheit der Kirchenmitglieder ist nicht gläubig. Die Katholische Kirche hat schlicht kein Angebot für die Mehrheit der Katholikinnen und Katholiken.
Ist die Kirche zuständig für die Leute, die nicht glauben?
Wenn diese Leute Steuern zahlen, ist die Kirche zuständig. Das wirft theologisch spannende Fragen auf. Ein Pfarramt für Atheisten fände ich eine interessante Herausforderung.
Sie besteigen bis zu dreimal die Woche den Weissenstein. Was bedeuten Ihnen die Berge?
Auspowern, in die Weite blicken, die Natur und ihr Wandel in den Jahreszeiten wahrnehmen. Oft gehe ich mit Freunden und Freundinnen in die Berge.
Auch wenn Sie nicht gerne Ratschläge erteilen, was würden Sie ihrem 20-jährigen Ich mit auf den Weg geben?
Thomas, denk daran, dass das Leben wild und kostbar ist. Gehe mit Zuversicht und Dankbarkeit deinen Weg. Hab Augen und Ohren für die schönen Dinge und Begegnungen. Und vergiss nicht, immer wieder über dich selbst zu lachen! Mach’s güät und häb Sorg!