Die Schafe sind erwachsen geworden

Johannes 10,11–16«Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe. … Ich kenne die Meinen und die Meinen ken­nen mich, wie mich der Vater ken­nt und ich den Vater kenne; und ich gebe mein Leben hin für die Schafe. Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind; auch sie muss ich führen und sie wer­den auf meine Stimme hören; dann wird es nur eine Herde geben und einen Hirten.»Ein­heit­süber­set­zung 2016 

Die Schafe sind erwachsen geworden

Eine schillernde Fig­ur, dieser Car­lo Bor­romeo. Er prof­i­tierte von dem seit der Renais­sance grassieren­den päp­stlichen Nepo­tismus. Aber in die Kirchengeschichte ging er ein als Pro­to­typ ein­er neuen Gen­er­a­tion von Bis­chöfen, die den Geist und die Beschlüsse des Tri­en­ter Konzils kon­se­quent und ziel­stre­big umset­zen woll­ten, zum Beispiel mit der Schaf­fung von Priestersem­inaren und über die Abhal­tung von Diöze­san­syn­oden. Durch seine per­sön­liche Askese und opfer­bere­ite Betreu­ung der Pestkranken gewann seine Verkündi­gung Strahlkraft und Glaub­würdigkeit. Als feuriger, ja uner­bit­tlich­er Vertreter der katholis­chen Gegen­re­for­ma­tion wurde er von den einen bewun­dert, von den andern gehas­st. Bis heute bezeu­gen Bilder, Altäre und Stat­uen in Kirchen und Kapellen die Verehrung und Dankbarkeit, die der Heilige hierzu­lande genoss, was ihm den Titel «Schutz­pa­tron der katholis­chen Schweiz» ein­trug. Selb­st in die Mari­astein­er Klostergeschichte ist er einge­gan­gen; denn von 1906 bis 1981 stand die von den Benedik­tin­ern geführte Inter­natss­chule in Alt­dorf als «Kol­legium Karl Bor­romäus» unter seinem Schutz und Namen.Bor­romeo ver­aus­gabte sich der­art in seinem bis­chöflichen Amt, dass er bere­its mit 46 Jahren am Ende sein­er Kräfte war und starb. For­t­an galt er als «Mod­ell­bischof im Sinne des Tri­dentinums», als «Leit­bild für die Reform der Kirche nach dem Konzil von Tri­ent». Das katholis­che Volk erkan­nte in ihm die Verkör­pe­rung des guten Hirten, der, nach dem Beispiel und in den Spuren von Jesus, sein Leben hingab für seine Schafe.Freilich, so ein­fach liegen die Dinge nicht (mehr). Viele empfind­en es als Zumu­tung, wenn das bib­lis­che Motiv vom guten Hirten und von der Herde zur Sakral­isierung von sklero­tis­chen Kirchen­struk­turen einge­set­zt wird und sich wom­öglich noch mit dem Stereo­typ von den «fol­gsamen Schäfchen» verbindet. Auch lassen sich die krisen­haften Erschüt­terun­gen, die wir heute in der Kirche erleben, wohl kaum mit dem Instru­men­tar­i­um des 16. Jahrhun­derts bewälti­gen. Im Gegen­teil. Die mit der Ref­or­ma­tion und Gegen­re­for­ma­tion ein­set­zende, weit ins 20. Jahrhun­dert fort­dauernde Kon­fes­sion­al­isierung von Kirchen, Gesellschaften und Men­tal­itäten wird heute als eine his­torische Entwick­lung wahrgenom­men, die um des Evan­geli­ums willen ein­schnei­den­der Kor­rek­turen und ein­er grund­sät­zlichen Neuaus­rich­tung bedarf.In diese Rich­tung weist der von Papst Franziskus gewollte Syn­odale Prozess, der in diesen Wochen in der katholis­chen Kirche weltweit anrollt, zur Vor­bere­itung auf die Bischof­ssyn­ode von 2023. Ob allerd­ings dieses Ziel mit einem Marschbe­fehl von oben und innert knapp zweier Jahre erre­icht wer­den kann, muss füglich bezweifelt wer­den. In manchen Belan­gen ste­ht sich die Kirche ger­ade wegen der vom Konzil von Tri­ent ini­ti­ierten und von Car­lo Bor­romeo umge­set­zten Refor­men sel­ber im Weg bei ihrer Erneuerung. Ironie der Geschichte oder uner­gründlich­er Wille Gottes?Matchentschei­dend ist der Verzicht auf Macht­ge­habe und Bevor­mundung, auf Besser­wis­serei und Anmas­sung, die Bere­itschaft zum Zuhören und zum Umdenken, das Wag­nis des Loslassens und des Neube­ginns, die per­sön­liche Lauterkeit eben­so wie die selb­st­lose Hin­wen­dung zu den Rand­ständi­gen, den Ver­lore­nen und Zukurzgekomme­nen, die Offen­heit gegenüber den Fra­gen­den, Suchen­den und Über­forderten.Um im Bild zu bleiben: Die Schafe sind nicht bock­iger als im 16. Jahrhun­dert. Sie hören auch heute sehr wohl auf die Stimme des Hirten, der sie ruft und ins Haus des Vaters ein­lädt. Aber die Schafe sind erwach­sen gewor­den.Peter von Sury, Abt des Benedik­tin­erk­losters Mari­astein   
Christian von Arx
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