Die Kir­chen­mu­sik als Opfer der Entkirchlichung

  • War­um «Sta­bat Mater» und Requi­em eigent­lich vor Ostern nichts ver­lo­ren haben und das kaum noch jeman­den stört.
  • Wer sich umhört, merkt rasch: Auch vie­le Kir­chen­mu­si­ker wis­sen nicht mehr, wel­che Musik wohin gehört. Und erst recht nicht die Liturgen.
  • Stö­ren tut sich kaum jemand dar­an: Dafür ist die Ent­kirch­li­chung auch unter den Lieb­ha­bern der geist­li­chen Musik bereits zu stark fortgeschritten.
 Ste­hen­de Ova­tio­nen im bis auf den letz­ten Platz gefüll­ten Kon­zert­saal des Kul­tur- und Kon­gress­zen­trums Luzern (KKL): Teo­dor Curr­ent­zis, Diri­gent und Shoo­ting­star der inter­na­tio­na­len Klas­sik­sze­ne, hat mit sei­nem Orche­ster- und Chor­en­sem­ble musi­cAe­ter­na am dies­jäh­ri­gen Luzer­ner Oster-Festi­val (orga­ni­siert von «Lucer­ne Festi­val») Ver­dis Requi­em auf­ge­führt. Lei­den­schaft­lich und ergrei­fend ent­fach­ten die Strei­cher einen Feu­er­sturm, schmet­ternd kün­de­ten Trom­pe­ten und Posau­nen vom Gericht Got­tes und angst­er­füllt fleh­te der Chor im vier Mal wie­der­keh­ren­den Herz­stück des Werks, dem «Dies Irae».

Ein Requi­em vor Ostern? War­um denn nicht?

«Da geht es um Tod und Auf­er­ste­hung. Das passt zu Ostern», mei­nen zwei älte­re Damen aus Bern, bei­de Musik­lieb­ha­be­rin­nen. Vor zwei Jah­ren schon sei­en sie um die­se Zeit nach Luzern gekom­men – Teo­dor Curr­ent­zis habe damals Per­go­le­sis «Sta­bat Mater» diri­giert. Wegen Teo­dor Curr­ent­zis ist eine Frau sogar aus Deutsch­land ange­reist. Zusam­men mit ihrer Cou­si­ne aus dem Zür­che­ri­schen Wädens­wil besucht sie das Kon­zert. Auch für sie ist klar: «Die Tex­te aus der Lit­ur­gie im Requi­em bil­den einen pas­sen­den Bezugs­punkt zu Kar­frei­tag».Soweit, so schön. Nur: Das Luzer­ner Oster-Festi­val hat im Grun­de herz­lich wenig mit Ostern zu tun – es endet bereits am Palm­sonn­tag. Und ein «Sta­bat Mater» hat in der Fasten­zeit oder an Ostern in etwa so viel ver­lo­ren wie ein Weih­nachts­ora­to­ri­um in der Advents­zeit. Doch dar­an stört sich kaum noch jemand. Von Sei­ten des «Lucer­ne Festi­val» heisst es bei­spiels­wei­se: «Das Oster-Festi­val ver­eint spi­ri­tu­el­le und welt­li­che Musik. Die Grün­dung des Oster-Festi­vals im Jah­re 1988 knüpf­te zwar an die mit­tel­al­ter­li­che Tra­di­ti­on der Oster- und Pas­si­ons­spie­le in Luzern an, war aber von Anfang an nicht aus­schliess­lich auf Pas­sio­nen fokus­siert.»

Vol­le Kir­chen wegen der Musik

Auch die Kon­zert­be­su­che­rin­nen und Besu­cher sehen das nicht so eng. Man sei weder katho­lisch, noch refor­miert, habe aber Freu­de an geist­li­cher Musik, meint eine Drei­er­grup­pe, die sich zusam­men die Auf­füh­rung von Ver­dis Requi­em ange­schaut hat. Man mache sich kei­ne Gedan­ken dar­über, was wann gespielt wer­den darf.Dass klas­si­sche Wer­ke nicht mehr wie frü­her an den für sie erdach­ten Ter­mi­nen gespielt wer­den, sei ein gesell­schaft­li­ches Pro­blem, das man auch zur Advents- und Weih­nachts­zeit beob­ach­ten kön­ne, erklärt der Kir­chen­mu­si­ker und Musik­do­zent Dani­el Schmid. «Wir leben in einer Zeit, in der Men­schen, die den Kon­takt zur Kir­che ver­lo­ren haben, sich von geist­li­cher Musik ange­zo­gen füh­len – beson­ders an Fest­ta­gen wie Pas­si­on, Ostern oder Weih­nach­ten». Man kön­ne das dar­an sehen, dass die Kir­chen an Fest­ta­gen deut­lich vol­ler sind, wenn in den Got­tes­dien­sten attrak­ti­ve geist­li­che Musik gespielt wer­de.

«Man kann doch nicht belie­big Stücke aussuchen»

«Vie­le Men­schen, die ich ken­ne, sagen mir, sie sei­en über­haupt nur noch Kir­chen­mit­glied, weil sie Kir­chen­mu­sik wei­ter­hin ermög­li­chen wol­len», berich­tet Dani­el Schmid. Und so ist die vor­öster­li­che Zeit neben der Advents- und Weih­nachts­zeit qua­si die Hoch­sai­son für Kir­chen­mu­sik: Gespielt wer­den vor allem Pas­sio­nen und Toten­mes­sen. So auch die­ses Jahr – wie bei­spiels­wei­se in Baden (Mozart-Requi­em), Brugg (Mat­thä­us-Pas­si­on), Woh­len und Aar­au (Johan­nes-Pas­si­on).Die Kon­zer­te sind in der Regel gut besucht, doch die Stück­aus­wahl behagt nicht allen. «Lei­der kommt es vor, dass da sehr gross­zü­gig ver­fah­ren wird», meint Bern­hard Han­g­art­ner. Der im Aar­gau wohn­haf­te Kir­chen­mu­si­ker und Musik­do­zent ist auch Chor­al­ma­gi­ster an der Jesui­ten­kir­che Luzern. «Man kann doch nicht ein­fach Stücke aus­su­chen, nur weil es grad schö­ne und belieb­te Stücke sind oder ein bekann­tes Ensem­ble damit gera­de auf Tour­nee geht».

Bil­dungs­lücken bei Kirchenmusikern…

Kein Pro­blem hat damit Tobi­as Wun­der­li, Lei­ter des «Ensem­ble de tem­po­re», wel­ches in Sar­menstorf zur Fasten­zeit Per­go­le­sis «Sta­bat Mater» zur Auf­füh­rung bringt. «Wir haben in die­sem Stück erstens ja kei­nen lit­ur­gi­schen Wort­laut, son­dern einen Text aus dem Mit­tel­al­ter, und zwei­tens gehört die The­ma­tik der an der Kreu­zi­gung ihres Soh­nes lei­den­den Maria doch in die Pas­si­ons­zeit», sagt er. «Teils rich­tig, teils falsch», meint dem­ge­gen­über Bern­hard Han­g­art­ner. Das «Sta­bat Mater» ist als Sequenz nicht nur ein lit­ur­gi­scher Text, es sei nach heu­ti­gem Ritus viel­mehr auch untrenn­bar ver­knüpft mit dem Hoch­fest der sie­ben Schmer­zen Mari­as am 15. Sep­tem­ber. «Woll­te man aber nur dem Rech­nung tra­gen, wür­de es das Publi­kum wohl gar nicht ver­ste­hen. Es käme bestimmt die Fra­ge, war­um wir das Stück denn im Sep­tem­ber brin­gen», fügt Bern­hard Han­g­art­ner an – um zu erklä­ren, dass auf­grund des man­geln­den lit­ur­gi­schen und hym­no­lo­gi­schen Ver­ständ­nis­ses eines Gross­teils der Bevöl­ke­rung die einst übli­che Ver­or­tung kir­chen­mu­si­ka­li­scher Wer­ke gar nicht mehr funk­tio­niert.Der Besuch in Sar­menstorf zeigt über­dies, dass Kir­chen­mu­si­ker, aber auch Lit­ur­gen in Bezug auf die Zug­hö­rig­keit geist­li­cher Wer­ke längst nicht mehr sat­tel­fest sind. An den Pro­ben zum Pas­si­ons­kon­zert in Sar­menstorf fin­det sich näm­lich auch Pfarr­ad­mi­ni­stra­tor Mar­co Vonar­burg. Auf die Fra­ge, wie er denn dazu ste­he, dass in der Fasten­zeit ein «Sta­bat Mater» auf­ge­führt wer­de, meint er nur: «Zu die­ser Fra­ge muss ich mich erst infor­mie­ren.»

…und Seel­sor­gen­den

Gera­de jun­ge Pfarr­leu­te wüss­ten kaum noch Bescheid in Sachen Lit­ur­gie und Hym­no­lo­gie, meint Die­ter Wag­ner, Lei­ter der öku­me­ni­schen Kir­chen­mu­sik­schu­le im Aar­gau. «Die Stu­die­ren­den wer­den erst kurz vor dem Vika­ri­at mit die­sem The­ma kon­fron­tiert. Das Theo­lo­gie­stu­di­um setzt ande­re Schwer­punk­te». Die­sen Ein­druck teilt auch der Zür­cher Musik­wis­sen­schaft­ler und Diri­gent Mar­tin Neu­komm: «Immer mehr Leu­te haben kei­ne Ahnung mehr vom Kir­chen­jahr», weiss der Dozent an der Zür­cher Hoch­schu­le der Kün­ste (ZHdK). Ein Requi­em, ein «Sta­bat Mater» oder auch eine Pas­si­on hät­ten ihren festen Platz im Fest­ka­len­der.Die Pas­sio­nen bei­spiels­wei­se sind eigent­lich für die Kar­wo­che kom­po­niert, so Mar­tin Neu­komm. Und ein Requi­em wer­de an Beer­di­gun­gen, an Gedenk­got­tes­dien­sten und am Toten­sonn­tag im Novem­ber gespielt. «Gewiss, die mei­sten mehr­stim­mi­gen und orche­ster­be­glei­te­ten Toten­mes­sen waren Auf­trags­ar­bei­ten für sehr wohl­ha­ben­de und pro­mi­nen­te Per­sön­lich­kei­ten», weiss auch Bern­hard Han­g­art­ner. Doch für die ein­fa­chen Leu­te habe es redi­men­sio­nier­te Kom­po­si­tio­nen für die Dorf­chö­re gege­ben. Die­se wur­den dann an den Beer­di­gungs­got­tes­dien­sten zur Lit­ur­gie gesun­gen – auf dem Land hal­te man das teils immer noch so.

Ist das Zwei­te Vati­ka­num schuld?

«Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil, mit dem die latei­ni­sche Mes­se in der Rea­li­tät ins zwei­te Glied zurück­ge­drängt wur­de, beför­der­te die Ver­la­ge­rung der Requi­em-Ver­to­nun­gen auf die Kon­zert­büh­ne». Gleich­wohl sei es aber zu ein­fach, dem Zwei­ten Vati­ka­num die Schuld dafür zu geben, dass die Leu­te heut­zu­ta­ge kei­ne Ahnung mehr davon hät­ten, wo ein Requi­em sei­nen Platz habe, meint Bern­hard Han­g­art­ner: «Schon Ver­di hat­te für sei­ne Toten­mes­se über den ursprüng­li­chen Ver­wen­dungs­zweck hin­aus die kon­zer­tant gedach­te Auf­füh­rung im Blick».Und auch Dani­el Schmid bestä­tigt: Die Ent­kon­tex­tua­li­sie­rung von geist­li­cher Musik ist kein gänz­lich neu­ar­ti­ges Phä­no­men. «Zu Men­dels­ohns Zei­ten, also bereits im 19. Jahr­hun­dert, hat­te die Kir­che für das Bür­ger­tum an Bedeu­tung ver­lo­ren. Die Auf­füh­rung geist­li­cher Wer­ke erfolg­te im säku­la­ren Rah­men, bei­spiels­wei­se zu Kaf­fee und Kuchen anläss­lich soge­nann­ter Sonn­tags­mu­si­ken im Hau­se Men­dels­sohn».

«Heut­zu­ta­ge geht es vor allem ums Geld»

Heut­zu­ta­ge wer­de vor allem «an den Stutz gedacht», weiss Die­ter Wag­ner, Lei­ter der öku­me­ni­schen Kir­chen­mu­sik­schu­le im Aar­gau. «Das Mozart-Requi­em kennt jeder. Was den­ken Sie, wofür sich das Publi­kum ent­schei­det, wenn es die Wahl hat zwi­schen die­sem Werk und einer eher unbe­kann­ten Tele­mann-Pas­si­on? Ver­an­stal­ter müs­sen heu­te dar­auf ach­ten, wel­che Wer­ke bekannt sei­en. Das bringt an der Abend­kas­se mehr Geld ein». Und das wie­der­um füh­re dazu, dass auch schon mal eine Mat­thä­us-Pas­si­on an einem Som­mer­fe­sti­val gespielt wer­de. Das sei halt die heu­ti­ge Zeit», meint Die­ter Wag­ner und ergänzt: «Gera­de Kir­chen­mu­si­ker stün­den so auch ver­mehrt unter Druck.»Bern­hard Han­g­art­ner, sei­nes Zei­chens selbst Musik­do­zent, beklagt, dass Kir­chen­mu­si­ker zu wenig in die­sen Belan­gen geschult wür­den und zu nach­gie­big sei­en. «Gera­de wenn heu­te die Leu­te für ihre Hoch­zei­ten, Tau­fen und Beer­di­gun­gen mit allen mög­li­chen musi­ka­li­schen Wün­schen kämen, sei Füh­rung gefragt – und ent­spre­chen­de Unter­stüt­zung der Lit­ur­gen. Damit aber sinn­voll argu­men­tiert und pas­sen­de Alter­na­ti­ven ange­bo­ten wer­den könn­ten, müss­ten die Fach­leu­te in ihren Kennt­nis­sen sat­tel­fest sein.

«Vie­le wis­sen gar nicht mehr, was Orgel­mu­sik ist»

Man kön­ne heu­te nicht mehr ein­fach so sagen: «Das geht nicht.» Häu­fig woll­ten die Leu­te zunächst ein­fach mal einen Schla­ger oder Pop­song, weil die­sen bei­spiels­wie­se der Ver­stor­be­ne immer ger­ne gehört habe. «Da merkt man dann, dass vie­le gar nicht mehr wis­sen, was Orgel­mu­sik ist. So habe ich schon erlebt, wie Men­schen sich in der Musik­wahl ument­schie­den haben, nach­dem man ihnen das gezeigt und erklärt hat.»Er jeden­falls ori­en­tie­re sich nach wie vor an den lit­ur­gi­schen und kir­chen­jah­res­zeit­li­chen Gege­ben­hei­ten, so Bern­hard Han­g­art­ner. In der Gre­go­ria­nik sei für jeden Tag ein Reper­toire defi­niert. «Das ver­su­che ich auch mei­nen Stu­den­ten bewusst zu machen und ihnen zu zei­gen, was aus wel­chem Grund wohin gehört. Die mei­sten wis­sen das nicht mehr, weil sie bereits kir­chen­fern auf­ge­wach­sen sind.» Die Stu­die­ren­den sei­en aber die­sem für sie meist neu­en Wis­sen gegen­über sehr auf­ge­schlos­sen.

«Nur Puri­sten wer­den sich dar­an stören»

Am Luzer­ner Oster-Festi­val aller­dings hält man es jeden­falls nicht so streng: «Nur reli­giö­se Puri­sten wer­den sich dar­an stö­ren, dass die­se Mes­se in einer welt­li­chen Hal­le, und nicht in einer Kir­che auf­ge­führt wird», meint die Dra­ma­tur­gin Susan­ne Stähr, wel­che vor der Auf­füh­rung von Ver­dis Requi­em die Werks­ein­füh­rung macht. Ob eine Toten­mes­se vor Ostern über­haupt am rich­ti­gen Platz ist, dar­auf wird schon gar nicht mehr eingegangen.
Andreas C. Müller
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