Die Frau an der Seite Gottes

Die Frau an der Seite Gottes

Baruch 3,9.14f.29–38Höre Israel, die Gebote des Lebens; merkt auf, um Ein­sicht zu erlan­gen. Lerne, wo die Ein­sicht ist, wo Kraft und wo Klugheit, dann erkennst du zugle­ich, wo langes Leben und Lebens­glück, wo Licht für die Augen und Frieden zu find­en sind. Wer hat je den Ort der Weisheit gefun­den? Wer ist zu ihren Schatzkam­mern vorge­drun­gen? Wer stieg zum Him­mel hin­auf, holte die Weisheit und brachte sie aus den Wolken herab? Wer fuhr über das Meer und ent­deck­te sie und brachte sie her gegen lauteres Gold? Kein­er weiss ihren Weg, nie­mand ken­nt ihren Pfad. Doch der All­wis­sende ken­nt sie; er hat sie in sein­er Ein­sicht ent­deckt. Er hat ja die Erde für immer gegrün­det, er hat sie mit Tieren bevölk­ert. Er sendet das Licht, und es eilt dahin; er ruft es zurück, und zit­ternd gehorcht es ihm. Froh leucht­en die Sterne auf ihrem Posten. Ruft er sie, so antworten sie: Hier sind wir. Sie leucht­en mit Freude für ihren Schöpfer. Das ist unser Gott; kein ander­er gilt neben ihm. Er hat den Weg der Weisheit ganz erkun­det und hat sie Jakob, seinem Diener, ver­liehen, Israel, seinem Liebling. Dann erschien sie auf der Erde und hielt sich unter den Men­schen auf.Ein­heit­süber­set­zung 

Die Frau an der Seite Gottes

Bei meinem Besuch der Kirche von Reckin­gen im Ober­goms habe ich nicht schlecht ges­taunt, als ich das Deck­engemälde näher betra­chtet habe. Es stellt die Erschaf­fung Evas (nach dem jah­wis­tis­chen Schöp­fungs­bericht in Gen 2,21f.) dar, ein Motiv, das in der religiösen Malerei nicht ganz sel­ten ist. Die Vorstel­lung, dass Gott aus ein­er Rippe des Erd­men­schens eine Frau formt, hat die Maler­fan­tasie oft angeregt. Schliesslich war mit der Erschaf­fung der Frau auch die Mann-Wer­dung Adams ver­bun­den.Bei der Betra­ch­tung des Bildes von Reckin­gen fällt aber auf, dass bei der Schöp­fungsszene eine Frau zuge­gen ist, eine Frau bei der Erschaf­fung der Frau. Sie sitzt, schön bek­lei­det, auf einem Stein und betra­chtet das Werk Gottes. Diese Frau muss also bere­its existiert haben, bevor Gott den Men­schen schuf.Nun ist natür­lich Gott auch bere­its als Mann dargestellt, bevor der Men­schen­mann erwacht ist. Aber man ist ja die Män­nergestalt Gottes gewohnt. Aber wer ist die Frau an der Seite Gottes?Der Kirchen­führer hat sich offen­sichtlich auch bere­its mit dieser Frage befasst und benen­nt die Frau als Maria, die schon bei der Schöp­fung als Mut­ter des Gottes­sohnes auser­wählt gewe­sen sei, eine mutige These, denn Maria war ganz gewiss eine geschaf­fene Frau und damit eine Urtochter Evas.Der Text des Baruch (nur in katholis­chen Bibelaus­gaben zu find­en, ent­standen in der grossen Umbruch­szeit der baby­lonis­chen Gefan­gen­schaft) gibt einen Hin­weis ganz ander­er Art. An der Seite Gottes ist die Weisheit zu find­en, eine Wesen­heit, die gottgle­ich jen­seit­ig ist, für Men­schen unerr­e­ich­bar. Sie war vor aller Zeit bei Gott, sie ist kein Geschöpf. Vielmehr set­zt Baruch sie deut­lich in den Zusam­men­hang, in dem die Frau im Reckinger Bild ste­ht: Der Schöpfer hat die Weisheit einge­bun­den in sein Schöp­fung­spro­jekt. Man wird also nicht falsch liegen, wenn man Frau Weisheit als Bera­terin, als Inspi­ra­tionsquelle Gottes beze­ich­net.Wir erin­nern uns an den anderen (den priester­schriftlichen) Schöp­fungs­bericht der Bibel (Gen 1,27): «Gott schuf also den Men­schen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.» Hier wird betont, dass ger­ade die Zweigestaltigkeit des Men­schen als Mann und Frau Abbild Gottes ist, der in sich zwei- oder vielgestaltig ist und ganz sich­er nicht als Urbild allein des Mannes vorgestellt wer­den darf.Nein, von Gott darf man sich kein Bild machen, weil Gott in keinem Bild erfasst wer­den kann. Den­noch kann der Men­sch nicht anders, als sich aus dem eige­nen Erleben der Welt eine Vorstel­lung Gottes zu bilden, in aller Rel­a­tiv­ität: Gott ist immer ganz anders. Aber jed­er Offen­barungs- und Denkbeitrag lässt uns Gott tiefer erken­nen, jedes Bild erweit­ert unseren religiösen Hor­i­zont, auch wenn wir bei keinem Bild ste­hen bleiben wer­den.Sich Gott als Span­nung­sein­heit von männlichen und weib­lichen Ele­menten vorzustellen, dürfte unser Gottes­bild sich­er erweit­ern. Vielle­icht dür­fen wir wei­t­er­denken und sagen, dass keine Schöpfer­kraft ohne Inspi­ra­tion, ohne Schön­heit­sempfind­ung auskommt.Bald feiern wir Pfin­g­sten, und Baruch schliesst seine Botschaft mit dem Satz: «Dann erschien sie auf der Erde und hielt sich unter den Men­schen auf.» Eben das feiern wir und nen­nen diese Weisheit Gottes den Heili­gen Geist. Diese Frau möge auch uns inspiri­eren, berat­en und begeis­tern.Lud­wig Hesse, The­ologe, Autor und Teilzeitschrein­er, war bis zu sein­er Pen­sion­ierung Spi­talseel­sorg­er im Kan­ton Basel­land
Redaktion Lichtblick
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