Der Weih­rauch ging und Räu­cher­stäb­chen kamen

Kurt Lussi ist Kon­ser­va­tor für Volks­kun­de, Buch­au­tor, Aus­stel­lungs­ma­cher und Refe­rent. Der Luzer­ner, der auch als Kura­tor am Histo­ri­schen Muse­um Luzern tätig ist, beschäf­tigt sich mit dem magisch-reli­giö­sen Brauch­tum im Alpen­raum und in neue­rer Zeit mit ähn­li­chen Vor­stel­lun­gen im aus­ser­eu­ro­päi­schen Raum. Der Wal­li­ser Tho­mas Jen­el­ten war Jugend­seel­sor­ger, lei­te­te fünf­zehn Jah­re lang die Pfar­rei Sankt Peter und Paul in Aar­au, ist Poli­zei­seel­sor­ger und seit knapp einem Jahr Heim­seel­sor­ger im Regio­na­len Pfle­ge­zen­trum Baden. Im Rah­men der Som­mer­se­rie von Hori­zon­te set­zen sich Kurt Lussi und Tho­mas Jen­el­ten mit den ver­schie­de­nen Aspek­ten des The­mas Ritua­le auseinander. Was ist der Unter­schied zwi­schen einer Gewohn­heit und einem Ritu­al. Ab wann wird etwas zum Bei­spiel zum Mor­gen­ri­tu­al, weil es mehr ist, als nur eine gewohn­te Abfol­ge von Hand­grif­fen? Tho­mas Jen­el­ten: Ich bin zwar kein Wis­sen­schaft­ler bei dem The­ma, aber es gibt schnell einen Grenz­be­reich zwi­schen Gewohn­heit und Ritu­al. Bei mir ist das Stich­wort Geheim­nis wich­tig. Beim Ritu­al kommt immer die Ebe­ne des Geheim­nis‘ dazu, die man nicht mehr grei­fen kann. Wenn ich als Kind Zäh­ne geputzt habe, war das Gewohn­heit. Wenn mir die Mut­ter für den Schul­weg ein Weih­was­ser­kreuz auf die Stirn gemacht hat, dann war das ein Ritu­al. Sie hat mir ein Geheim­nis mitgegeben.Kurt Lussi: Man kann sich noch die Fra­ge stel­len, was für ein Geheim­nis. Anson­sten sehe ich das ähn­lich. Von der For­schung und vom Kon­takt mit ande­ren Kul­tu­ren her, ist das Ritu­al etwas, das in ganz spe­zi­ell vor­ge­schrie­be­ner fester Form, von der Tra­di­ti­on über­lie­fer­ter wur­de um in Kon­takt mit höhe­ren Mäch­ten zu tre­ten. Ich sage nicht Gott, son­dern höhe­re Macht, weil das für alle Kul­tu­ren gilt. Ein Ritu­al hat immer etwas mit dem Hei­li­gen zu tun. Das Ritu­al ist also etwas, was man nicht ein­fach so macht, wie zum Bei­spiel Zäh­ne put­zen. Durch das Ritu­al soll die höhe­re Macht ange­ru­fen wer­den. Im Gegen­satz dazu fehlt beim Brauch­tum der spi­ri­tu­el­le Aspekt, wie dies zum Bei­spiel bei der Fas­nacht zutrifft. Und Gewohn­heit ist etwas, das Ver­trau­en und Sicher­heit, ein Gefühl des Auf­ge­ho­ben­seins schafft.Das sagt man auch von Ritua­len. Egal wo ich auf der Welt in einen katho­li­schen Got­tes­dienst gehe, ich füh­le mich dort auf­ge­ho­ben, weil er über­all gleich ist. Und das ist ja mehr als Brauch­tum und Gewohn­heit. Kurt Lussi: Wenn man in eine katho­li­sche Mes­se geht, ent­steht Ver­traut­heit. Aber der Effekt der Mes­se ist ja mehr: Es geht um den Kon­takt mit dem Gött­li­chen. Und das Ziel ist auch, dass ich anders aus der Kir­che kom­me, als ich rein­ge­gan­gen bin. Der Besuch soll eine Berei­che­rung sein. Wenn das nicht pas­siert, muss ich ent­we­der nicht gehen, oder ich besu­che die Hei­li­ge Mes­se nur noch aus Gewohn­heit. Gewohn­heit und Ritu­al soll­ten nicht ver­mischt wer­den, denn das Ziel des Ritu­als ist ein ande­res. Auch beim Brauch­tum kön­nen Gefüh­le da sein. Ich fühl mich wohl an der Fas­nacht oder in einer Zunft.  Das Brauch­tum rich­tet sich nach ganz spe­zi­el­len Leit­plan­ken. Das kann man nicht ein­fach so prak­ti­zie­ren. Brauch­tum heisst ja „in Gebrauch“. Aber den spi­ri­tu­el­len Cha­rak­ter, den es mal gehabt hat, gibt es nicht mehr. Des­halb wür­de ich ganz klar tren­nen zwi­schen Brauch­tum und Ritu­al. Ritu­al ist für mich immer das in Kon­takt tre­ten mit etwas Hei­li­gem, einer höhe­ren Macht. Und bei der Gewohn­heit, da gibt es kei­ne Vor­schrif­ten, die schafft man sich selber.Hat ein Riu­tal zwin­gend eine Ver­bin­dung mit einer Höhe­ren Macht? Tho­mas Jen­el­ten: Ich rin­ge etwas mit dem begriff «höhe­re Macht». Ich wür­de es eher «gött­li­ches Geheim­nis» nen­nen. Doch grund­sätz­lich ist es schon so: Ritu­al hat etwas mit dem Berüh­ren des Gött­li­chen zu tun. Wenn das ver­schwin­det, ist es nicht mehr Ritu­al. Das ande­re ist ja, dass ein und die­sel­be Tätig­keit manch­mal ein Ritu­al ist und manch­mal nicht. Ich war fleis­si­ger Mini­strant und Kirch­gän­ger: was ich da erlebt habe, war nicht immer Ritual.Kurt Lussi: Im Chri­sten­tum hat der Begriff Macht einen Bei­geschmack. In ande­ren Kul­tu­ren spricht man von einer «mysti­schen Kraft» und stellt sich vor, dass die­se Kraft in das Leben des Men­schen ein­greift.Vie­len Men­schen sagen die kirch­li­chen Ritua­le nichts mehr und sie suchen sich neue For­men und freie Ritu­al­ge­stal­ter. Müss­ten Ritua­le fle­xi­bler sein, damit sie näher beim Men­schen sind oder wider­spricht das einem Ritu­al? Kurt Lussi: Wenn man ein Ritu­al auf­weicht, wird die Ver­traut­heit eli­mi­nie­ren. Wenn ein Prie­ster plötz­lich nur noch neue Lie­der singt, sind älte­re Men­schen über­for­dert. Es wäre bes­ser, die Ritua­le wie­der mit Leben zu erfül­len. Nicht das Ritu­al muss folg­lich geän­dert wer­den, son­dern man soll­te statt­des­sen das Ver­ständ­nis für das Ritu­al wecken. Ich habe Prie­ster erlebt, die das gemacht haben. Und plötz­lich konn­ten die Men­schen im Ritu­al wie­der einen Sinn sehen. Das ist eine Her­aus­for­de­rung für die Theologen.Tho­mas Jen­el­ten: Ich den­ke man muss Ritua­le immer wie­der neue ent­wickeln. Ich bewe­ge mich als Poli­zei­seel­sor­ger in einem eher säku­la­ren Umfeld. Eben­so bei der Feu­er­wehr in Aar­au. Da ist die gan­ze Palet­te der Gesell­schaft vor­han­den. Auf­grund der gesell­schaft­li­chen Situa­ti­on wäre es not­wen­dig, immer wie­der neue Ritua­le aus­zu­pro­bie­ren. Ein Bei­spiel: Ich habe bei der Erwei­te­rung eines Feu­er­wehr­lo­kals die Ein­wei­hung mit­ge­stal­tet. Offi­zi­ell eine Ein­wei­hung, aber letzt­lich war es eine Eröff­nung. Ich soll­te etwas sagen, nicht als katho­li­scher Seel­sor­ger, son­dern all­ge­mein. Ich habe dann einen lusti­gen Engel mit­ge­bracht und gesagt: der sitzt im Mann­schafts­raum und erin­nert uns dar­an, dass die Feu­er­wehr­leu­te für­ein­an­der da sein sol­len. Die­ser Engel sass dann dort. Einen Monat spä­ter ist ein Feu­er­wehr­ka­me­rad schwer­krank ins Spi­tal gegan­gen und einer sei­ner Kol­le­gen hat den Engel ins Spi­tal gebracht, damit er die Ver­bin­dung zu den ande­ren nicht ver­liert und einen Schutz hat. Das sind für mich Ver­su­che, «mysti­cal power» ins Leben zu tra­gen. In dem Fall die Kraft zwi­schen den Feu­er­wehr­leu­ten. Das ist natür­lich vor allen Din­gen ein Ver­such. Doch so ist es in der Gesell­schaft: wir fra­gen, was ist eine Form, die Halt gibt und die etwas erfahr­bar macht von der gött­li­chen Kraft in der äus­se­ren Welt.Kurt Lussi: Da muss ich dann fra­gen: ist das ein Ritu­al? In den ursprüng­li­chen Kul­tu­ren oder dem Juden­tum sind die Ritua­le strikt vor­ge­schrie­ben. Wenn man sich nicht an die­se Vor­schrift hält, stellt man die Wir­kung in Fra­ge. Was Sie tun ist wun­der­schön, aber ist dies wirk­lich ein Ritu­al? Oder ist es ein­fach eine Form, eine Bot­schaft zu ver­mit­teln? Bei Ritua­len schau­en wir auf einem Kon­text von Jahr­hun­der­ten oder sogar Jahr­tau­sen­den.Wie wür­den sie dann aber einem Lai­en erklä­ren, was ein Ritu­al ist? Was macht ein Ritu­al aus? Kurt Lussi: Ein Ritu­al ist ein Ablauf von ganz ver­schie­de­nen Hand­lun­gen, die sich anein­an­der­rei­hen.  Ritua­le sind von der Tra­di­ti­on über­lie­fert. Sie haben immer den Zweck, Spi­ri­tua­li­tät zu erzeu­gen. Der­je­ni­ge, der es aus­führt, löst sich in einem gewis­sen Sin­ne von der All­tags­welt. Der Prie­ster bei­spiels­wei­se legt ein Mess­ge­wand an und ist nicht mehr der Kol­le­ge, mit dem ich jas­sen gehe. Ich habe viel­leicht sogar Mühe ihn zu duzen, wenn ich ihn per­sön­lich ken­ne. In der Mes­se ist er in der Funk­ti­on eines Ritual­lei­ters. Er befin­det sich in einer ande­ren Welt. Das was im Ritu­al statt­fin­det, ist ein Zere­mo­ni­ell, dass sich auf ein bestimm­tes Ziel aus­rich­tet, näm­lich mit den gött­li­chen Mäch­ten in Kon­takt zu tre­ten. Das ist bei allen Reli­gio­nen so, die ich kenne.Tho­mas Jen­el­ten: Ja. Wenn ich als Gemein­de­lei­ter getauft habe oder Abdan­kun­gen durch­ge­führt habe, war das Gewand sehr wich­tig. Ich bin dann nicht mehr der pri­va­te Tho­mas Jen­el­ten, son­dern habe eine Funk­ti­on. Das Ritu­al­kleid ist sehr wich­tig. Auch um mich zu schüt­zen. – Was mich sehr beschäf­tigt ist, wie man die­ses Geheim­nis vom Leben in einer säku­la­ri­sier­ten Gesell­schaft ver­mit­teln kann. Das ist eine Suche mit manch­mal über­ra­schen­dem Aus­gang. Ein Paar woll­te sein Kind tau­fen las­sen. Doch sie woll­ten es ganz anders machen. Wir haben dis­ku­tiert, über­legt, was sie sich wün­schen und zum Schluss kamen wir doch beim tra­di­tio­nel­len Ritu­al an.Kurt Lussi: Ich stel­le auch fest, dass die Ritua­le geschätzt wer­den, wenn man sie erklärt. Das aber wur­de und wird oft ver­säumt. Kar­di­nal Hen­ri Schwery (unter Ande­rem Vor­sit­zen­der der Schwei­zer Bischofs­kon­fe­renz von 1983- 1988, Anmer­kung der Redak­ti­on) hat etwas sehr Beden­kens­wer­tes geäus­sert, als er vor eini­gen Jah­ren in einem Vor­trag sag­te: «Die Kir­che ist mit der tra­di­tio­nel­len Mes­se und dem Weih­rauch durch den Haupt­gang der Kir­che aus­ge­zo­gen und durch die Sei­ten­ein­gän­gen sind die Eso­te­ri­ker mit den Räu­cher­stäb­chen her­ein­ge­kom­men.» Die Kir­che hat der Eso­te­rik mit den Boden berei­tet, weil sie sich von man­chen Ritua­len ver­ab­schie­det hat. Damit ist eine Lücke ent­stan­den. Die­se wur­de durch neue Ritua­le und Inter­pre­ta­tio­nen gefüllt. Ich sage nicht, dass das gut oder schlecht ist, ich stel­le dies ein­fach fest. Die Men­schen wol­len in allen Sin­nen ange­spro­chen wer­den. Wenn die Kir­che das nicht mehr kann oder macht, suchen sie sich etwas Neu­es. Alte, teil­wei­se sehr schö­ne Ritua­le, spre­chen die Men­schen auch heu­te an, sofern man ihnen den Sinn erklärt. Es hat sei­ne tie­fen Grün­de gehabt, wes­halb man zum Bei­spiel Kir­chen gegen Osten gebaut hat und der Prie­ster die Mes­se mit dem Gesicht gen Osten und damit mit dem Rücken zum Volk fei­er­te. Ich sage nicht, dass man alte Prak­ti­ken wie die­se wie­der ein­füh­ren soll, aber wenn man den Sinn erklärt, kommt oft ein Aha-Erleb­nis bei den Men­schen und sie fra­gen nach, war­um das im Reli­gi­ons­un­ter­richt nicht erklärt wird.Wie sieht das mit 15 Jah­ren Pra­xis­er­fah­rung in einer zuneh­mend säku­la­ren Umge­bung aus? Könn­te man alte Ritua­le, die ihren Sinn haben, wie­der bele­ben oder ist es ein­fa­cher, neue Ritua­le zu erar­bei­ten. Tho­ma­se Jen­el­ten: Bei kirch­li­chen Men­schen ist das wie­der­be­le­ben sicher ein­fa­cher. Da gibt es über die kirch­li­che Sozia­li­sie­rung einen Zugang. Sinn­voll und not­wen­dig ist das bei Gene­ra­tio­nen, die die­se Sozia­li­sie­rung nicht erlebt haben. Ver­mitt­lung von Ritua­len ist Erfah­rungs­ver­mitt­lung. Wenn man das gut ver­bin­den kann, pri­ma. Rich­tig ist: Man soll­te Ritua­le nicht ein­fach ver­schwin­den las­sen. Ein gutes Bei­spiel ist die letz­te Ölung. Die gibt es nicht mehr, es ist jetzt die Kran­ken­sal­bung. Das Bedürf­nis nach einem Star­ken Zei­chen für den Über­gang ist damit aber nicht abge­schafft. Das ist da. Die Fra­ge trifft mich weni­ger akut, weil ich kein Prie­ster bin. Aber Kir­che hat an sol­chen Tra­di­tio­nen geschraubt. Es ist gut, dass es eine Kran­ken­sal­bung gibt, aber dass der Über­gang nicht mehr so ritua­li­siert ist wie frü­her, ist scha­de und das fehlt den Menschen.Kurt Lussi. Und die Lücke wird gefüllt. Durch ande­re. Da ver­gibt sich Kir­che eine Chan­ce bei den Men­schen zu sein. Das ist scha­de. Damit hängt auch die Fra­ge zusam­men, ob die­se Ande­ren kom­pe­tent sind. Mei­ne Frau hat eine Aus­bil­dung als Ster­be­be­glei­te­rin gemacht, und obwohl es eine gute Aus­bil­dung ist, wur­de nie nur ein Wort über die Rol­le der Hei­li­gen oder die Got­tes­mut­ter Maria ver­lo­ren. Wenn eine Ster­be­be­glei­te­rin zu einer katho­li­schen Ster­ben­den kommt, wird sie kaum einen Anknüp­fungs­punkt haben. Was will eine 80-jäh­ri­ge mit moder­nen Ritua­len? Die Wahr­schein­lich­keit, dass ihr ein Mari­en­ge­bet hilft, ist da ungleich grös­ser. Die Aus­klam­me­rung der tra­di­tio­nel­len Vor­stel­lun­gen sehe ich als Ver­lust. Ich per­sön­lich möch­te ein­mal prie­ster­li­chen Bei­stand haben.Tho­mas Jen­el­ten: Das kann ich nach­voll­zie­hen. Im Wal­lis gross­ge­wor­den, habe ich noch nie so vie­le Mari­en­lie­der gesun­gen, wie jetzt in Baden. Nicht, weil ich beson­ders Mari­en­fromm wäre, aber es sind für vie­le alte Leu­te die bekann­ten Lie­der. Die sie brau­chen und wo sie sich daheim füh­len, die sich gebor­gen füh­len unter dem wei­ten Man­tel der Maria.Ritua­le sind jeweils stark geprägt von der Kul­tur, in der sie ent­stan­den sind. Sind Ritua­le trans­por­ta­bel von einer Kul­tur in eine ande­re, oder funk­tio­niert das nicht? Kurt Lussi: Das funk­tio­niert wun­der­bar. Aus dem ein­fa­chen Grund: Der Inhalt der Ritua­le ist in vie­len Berei­chen ähn­lich. Nur die Form ist ver­schie­den. Ein­flüs­se ande­rer Kul­tu­ren kön­nen auch ihr Gutes haben. Neh­men wir das Bei­spiel Hal­lo­ween. Vie­le Men­schen sehen dar­in eine Gefähr­dung unse­rer Glau­bens­welt. Aber dank Hal­lo­ween haben vie­le Aller­hei­li­gen neu ent­deckt. Es ist also nicht nur nega­tiv, wenn bestimm­te Brauch­tü­mer ein­wan­dern, denn wir kön­nen durch die­se «Bedro­hung» unser eige­nes Brauch­tum wie­der mit neu­em Leben fül­len. Es ist eine Bewusst­ma­chung. Erst wenn ein Ritu­al bedroht wird, erken­nen wir sei­nen Wert. Und das ist gut.Tho­mas Jen­el­ten: Mir kommt das Grund­ri­tu­al vom Tei­len des Bro­tes in den Sinn. Ob ich das in der refor­mier­ten oder katho­li­schen Tra­di­ti­on, im Wal­lis oder im Aar­gau oder in Tan­sa­nia erle­be: Wenn es zum Ritu­al wird, hat es über­all die Kraft ver­ständ­lich zu sein. Es ist ein Zei­chen der Ver­bun­den­heit. Und auch in einem säku­la­ren Hin­ter­grund wird wahr­ge­nom­men, dass es mehr ist als phy­sisch erfass­bar. Ich habe häu­fi­ger sagen gehört: Als das Brot geteilt wur­de, da ist etwas anders gewor­den. Die­se Grund­form wirkt also.Kurt Lussi: Ich habe das in Gwas­si am Vik­to­ria­see erlebt. Wir sind an einem hei­li­gen Ort gewe­sen und haben dort mit den Ein­hei­mi­schen ein Ritu­al zele­briert und eine Schüs­sel hei­li­ges Was­ser geteilt. Das war eine der­art sakra­le Stim­mung, da habe ich nie über mög­li­che Krank­heits­er­re­ger nach­ge­dacht. Das hei­li­ge Was­ser habe ich mit dem Gefühl ent­ge­gen­ge­nom­men, mit etwas Hei­li­gem in Berüh­rung zu kom­men. Und der Prie­ster, sie nen­nen sich Prie­ster, sind aber kei­ne Prie­ster im katho­li­schen Ver­ständ­nis, war unglaub­lich fein­füh­lig. Inhalt­lich und von dem, was ich gespürt habe, wie ich mich berei­chert gefühlt habe, ist das eben­bür­tig gewe­sen zu einer Mes­se. Es ist also falsch, zu sagen: das Frem­de ist ja nichts wert. Es ist ein­fach anders.Weil das Ritu­al einen Inhalt hat, der über uns sel­ber hin­aus ver­weist? Kurt Lussi: Ja. Und weil er Din­ge gesagt hat, die bei mir noch immer nach­wir­ken. Das zeich­net auch einen guten Prie­ster bei uns aus. Wenn er mit sei­ner Pre­digt einen Gedan­ken mit­gibt, über den man noch lan­ge nach­denkt, geht man berei­chert nach Hause.Aber heisst das nicht letzt­lich, dass die Stär­ke, die in einem Ritu­al liegt auch sehr von der Per­son abhängt, die es durch­führt? Kurt Lussi: Ja das ist so. Ein Exor­zis­mus bei­spiels­wei­se ist nur so gut oder so schlecht, wie der Exorzist.Hat die Kir­che zu weni­ge Leu­te, die Ritua­le authen­tisch kraft­voll ver­mit­teln und durch­füh­ren? Tho­mas Jen­el­ten: Dar­über den­ke ich auch nach. Was ist der Teil von mei­ner Per­son, der in einem Ritu­al prä­sent ist, das ich lei­te. Es häng damit zusam­men, dass ich dar­auf ver­traue, sel­ber in Berüh­rung mit dem gött­li­chen Geheim­nis zu kom­men. Und gleich­zei­tig als Per­son sehr dis­kret bin. Es geht ja nicht um mich. Wenn ich auf Show­man mache, geht das Ritu­al kaputt. Es braucht eine gros­se Karg­heit in mei­ner Per­son, wobei ich gleich­zei­tig wirk­lich im Ritu­al ste­hen muss. Ich bin im Som­mer bei einer Kon­fir­ma­ti­on gewe­sen und habe bei dem Pfar­rer gedacht: Hey steh hin! Die jun­gen Leu­te brau­chen die Kraft des Ritu­als. Es wirk­te, als habe er sel­ber nicht dar­an geglaubt, dass etwas Wesent­li­ches passiert.Kurt Lussi: Ein ande­res Bei­spiel ist ein älte­rer Kaplan, den ich ken­ne. Manch­mal ist er viel­leicht etwas zer­streut, redet lang­sam und bedäch­tig. Aber er hat inne­re Kraft und spi­ri­tu­el­le Stär­ke. Sei­ne Aus­strah­lung zeigt: Er lebt sei­ne Spi­ri­tua­li­tät, die sehr mit­reis­send und ein­be­zie­hend ist.Aber ein sol­ches Cha­ris­ma kann man ja nicht antrai­nie­ren oder anler­nen? Tho­mas Jen­el­ten: Mir kommt noch das Wort Prä­senz oder prä­sent sein in den Sinn. Jemand kann even­tu­ell etwas ver­huscht wir­ken, aber den­noch da sein. Das kann man schon ler­nen, aber es hat vor allen Din­gen mit inne­rer Über­zeu­gung zu tun.Kurt Lussi: Ich habe in Afri­ka  einen Witch­doc­ter besucht. Wir waren dort im Dorf und man spür­te, in wel­cher Hüt­te die­ser Mann lebt. Sei­ne Aus­strah­lung oder Prä­senz war weit um sei­ne Hüt­te spür­bar. Sei­ne Ritua­le, sei­ne Kul­tur sind afri­ka­nisch, aber der Inhalt der Ritua­le war mir ver­traut. Auch da: Wenn es im Zen­trum nicht stimmt, ist das äus­se­re Ritu­al nur noch Brauch­tum. Und wenn das Inne­re stimmt, ist das Äus­se­re des Ritu­als manch­mal nicht mehr mass­ge­bend. Das heisst man muss die Fra­ge etwas rela­ti­vie­ren.Es gibt also Varia­blen in einem Ritu­al? Kurt Lussi: Ja, aber nicht nach Belie­ben. Im Voo­doo Loui­sia­nas gibt es gewis­se Eck­punk­te, die man ein­hal­ten soll­te. Wenn ein Voo­doo-Prie­ster davon abweicht, ist das auch gut. Es ist dann ein­fach nicht mehr Louisiana-Voodoo.Gibt es die Fra­ge nach zuneh­men­der Säku­la­ri­sie­rung und der damit ver­bun­de­nen Abwen­dung von den Kir­chen und damit den klas­si­schen Ritua­len in Afri­ka auch, oder ist das ein euro­päi­sches Pro­blem? Kurt Lussi: Inter­es­san­te Fra­ge. Ich den­ke, das hat mit der Ent­spi­ri­tua­li­sie­rung unse­rer Gesell­schaft und der Hin­wen­dung zum Mate­ria­lis­mus zu tun. Heu­te gilt alles als mach­bar und erklär­bar. Die kirch­li­chen Orden, in denen Spi­ri­tua­li­tät gelebt wird, haben es schwer, Nach­wuchs zu fin­den. Und Pfar­rer müs­sen sich häu­fig um die Admi­ni­stra­ti­on küm­mern. Dem­entspre­chend fehlt ihnen Zeit für die eigent­li­che Seel­sor­ge. Das hat mit dem System zu tun. Ein Witch­doc­tor bei­spiels­wei­se ist ein­fach für die Dorf­be­woh­ner da. Das kön­nen wir uns hier nicht vor­stel­len. Ich habe in Nai­ro­bi einen Freund der stu­diert hat und heu­te Geschäfts­mann ist. Gewis­se Fra­gen dis­ku­tiert der nicht. Wes­halb hat er dies oder jenes Zei­chen in sei­nem Geschäft hän­gen? Gegen Auto­dieb­stahl zum Bei­spiel. Wenn jemand sein Auto klaue, erzähl­te er mir, müs­se der Betref­fen­de in die Knie gehen und Grass essen. Auf mei­ne Ein­wen­dun­gen hin, ob das funk­tio­nie­re, erwi­der­te er jedes Mal: «This is Afri­ca – things like this work in Africa».Heisst das, die Welt dort ist grös­ser. Die unsicht­ba­re Schöp­fung ist nicht nur ein Satz, der zwar gesagt, aber viel­leicht nicht geglaubt wird? Kurt Lussi: Ja. Auch im Voo­doo. In New Orleans ist Voo­doo Teil des täg­li­chen Lebens. Und beim Voo­doo in Loui­sia­na geht es nicht um Scha­den­zau­ber, son­dern um das Gute. Das schlech­te Image das Voo­doo in unse­rer Kul­tur hat, ent­stand durch die ame­ri­ka­ni­sche Film­in­du­strie. Es gibt auch im Voo­doo Hei­li­gen­bil­der. Wie in unse­rem Volks­glau­ben wer­den die­se Hei­li­gen als Ver­mitt­ler zwi­schen den Men­schen und Gott angerufen.Das heisst, es funk­tio­niert eine Inte­gra­ti­on von kul­tu­rell ande­ren For­men? Das, was wir Syn­kre­tis­mus nen­nen? Kurt Lussi: Ja. Und im Voo­doo ist es sogar so: Die, die ihn wirk­lich prak­ti­zie­ren sind Katho­li­ken. Im Prin­zip wird das, was wir Volks­glau­ben nen­nen, in den USA als Voo­doo bezeich­net. Wenn ich unse­ren Volks­glau­ben anschaue, dann ist die­ser auch nicht immer mit der Bibel kom­pa­ti­bel. Hei­li­ge zum Bei­spiel kön­nen nicht hel­fen. Wenn sie das könn­ten, wäre das Chri­sten­tum nicht mono­the­istisch. Die Hei­li­gen wer­den daher für­bitt­wei­se ange­ru­fen. Auch ein Gna­den­bild hat kei­ne eige­nen bezie­hungs­wei­se magi­schen Kräf­te. Das wur­de den Gläu­bi­gen bereits in den Katho­li­schen Hand­po­stil­len des 19. Jahr­hun­derts ver­mit­telt, mit wenig Erfolg. Gleich­wohl berüh­ren Men­schen hei­li­ge Din­ge, um von die­sen Kraft auf­zu­neh­men. Inhalt­lich ist es ähn­lich wie Voo­doo, nur eben euro­päi­scher Volksglaube.Ist vie­les, was wir glau­ben und in Ritua­len tun, zu intel­lek­tua­li­siert? Tho­mas Jen­el­ten: Wie ich das sehe, hat in unse­rer Kul­tur das Geheim­nis schon kei­nen Platz mehr. Eine ver­ant­wort­ba­re Theo­lo­gie sei­tens der Kir­che ver­sucht schon, das Geheim­nis zu ret­ten. Doch es gibt die Strö­mun­gen, die anstel­le des Geheim­nis‘ eine Art Magie set­zen. Zum Bei­spiel im Gesund­heits­be­reich. Das ist etwas, was mir zu den­ken gibt. Das Geheim­nis hat kei­nen Platz und die Kir­che muss auf­pas­sen, dass sie selbst das Geheim­nis nicht auch noch plün­dert, indem sie sich zu sehr anpasst. Wenn in einem Kon­fir­ma­ti­ons­got­tes­dienst nur noch Pin­k­lie­der gespielt wer­den, dann traut man den Ritua­len eigent­lich nichts mehr zu.Oder den Jugend­li­chen, dass sie die Ritua­le ver­ste­hen? Kurt Lussi: Wenn sich ein Ritu­al auf die gött­li­che Dimen­si­on bezieht, dann muss es sich vom All­tag abhe­ben. Und die Jugend­li­chen sol­len das auch spü­ren. Wenn es dies nicht tut, wird die Hei­lig­keit des Ritu­als pro­fa­ni­siert. Aus einer Mes­se wird dann eine Ver­an­stal­tung und ist damit sinn- und spi­ri­tua­li­täts­ent­leert. Es muss deut­lich wer­den: Wir gehen jetzt in eine ande­re Welt, an einen ande­ren Ort. Des­we­gen legen Prie­ster Mess­ge­wän­der an. Genau das macht das Geheim­nis aus. Nimmt man es weg, geht auch das Volk. Wenn dies im ange­stamm­ten Glau­ben nicht mehr stimmt, holen sich die Men­schen das Geheim­nis­vol­le woanders.Das heisst, Kir­che soll­te sich nicht ver­bie­gen, son­dern alte Ritua­le durch cha­ris­ma­ti­sche Per­so­nen neu leben­dig machen. Tho­mas Jen­el­ten: Kir­che muss ein­fach auf­pas­sen. Der Riut­allei­ter soll­te nicht zum Mode­ra­tor und die Mit­fei­ern­den nicht zum Publi­kum werden.Kurt Lussi: Die­se Aus­sa­ge gefällt mir. Ich brau­che kei­nen Prie­ster, der sich als Unter­hal­ter ver­steht. Wenn es nur noch dar­um geht, ob man die Kir­che voll hat, ist das mei­ner Mei­nung nach kein Zei­chen für Erfolg.Hier wur­de haupt­säch­lich von Prie­stern gespro­chen. Aber die Durch­füh­rung von Ritua­len liegt ja auch in den Hän­den von Lai­en­seel­sor­gern. Muss ein Ritual­lei­ter ein geweih­tes Haupt sein? Kurt Lussi: Ich bin der Mei­nung, dass eine Wei­he sein muss. Aber ob die geweih­te Per­son eine Frau oder ein ver­hei­ra­te­ter Mann ist, ist für mich nicht ent­schei­dend. Wei­he heisst für mich: Es ist eine Per­sön­lich­keit, die wir durch die Wei­he zur Gemein­de­lei­tung aus­zeich­nen. Aber nicht in dem Sin­ne, dass man unbe­dingt Theo­lo­gie stu­diert haben muss. Die per­sön­li­chen Grund­vor­aus­set­zun­gen, die es für eine Wei­he oder zumin­dest für eine Beauf­tra­gung braucht, muss die betref­fen­de Per­son jedoch mitbringen.Tho­mas Jen­el­ten: Die­se Mei­nung tei­le ich grund­sätz­lich. Es braucht eine Beauf­tra­gung – aller­dings fin­de ich die Beschrän­kung auf die Gemein­de­lei­tung zu eng. Es ist die Ver­ant­wor­tung der Kir­chen­lei­tung die Bedin­gun­gen ent­spre­chend zu gestal­ten. Im Moment sind wir in der unglück­li­chen Situa­ti­on, dass wir zu weni­ge Leu­te haben, die die­se Beauf­tra­gung in Form der Wei­he haben. Wenn das Sakra­ment der Kran­ken­sal­bung aus­stirbt, dann liegt das unter Ande­rem dar­an, dass Vie­le (auch ich) die­ses Ritu­al nicht fei­ern dür­fen, weil die fest­ge­leg­ten Vor­aus­set­zun­gen sehr eng sind.Das Alte bewah­ren? Neu­es ein­füh­ren? Was mei­nen Sie? Schrei­ben Sie uns Ihre Meinung.
Redaktion Lichtblick
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