«Der Stän­de­rat ist eine Basti­on des Katholizismus»
Nationalratssaal in der Sommersession 2024
Bild / Foto: © Par­la­ments­dien­ste / Fran­ca Pedrazzetti

«Der Stän­de­rat ist eine Basti­on des Katholizismus»

Das Parlament ist die grösste Kirche der Schweiz. 75 Prozent der Abgeordneten gehören einer Kirche an. Einfluss auf das Stimmverhalten habe die Konfessionszugehörigkeit kaum, sagt Politikwissenschaftler Adrian Vatter.

In der Bevöl­ke­rung sind knapp 53 Pro­zent Kir­chen­mit­glie­der, im Par­la­ment sind es 75 Pro­zent. Macht die Säku­la­ri­sie­rung vor dem Par­la­ment halt?

Adri­an Vat­ter: Nein, aber der Pro­zess ver­läuft auf der Eli­ten-Ebe­ne lang­sa­mer. Im Ver­gleich zur letz­ten Unter­su­chung von 2017 erkennt man auch im Par­la­ment einen Trend zu mehr Kon­fes­si­ons­lo­sen. Der hohe Pro­zent­satz an Kir­chen­mit­glie­dern unter den Par­la­men­ta­rie­rin­nen und Par­la­men­ta­ri­er ist auch Aus­druck einer grös­se­ren Ver­bun­den­heit mit der Gemein­schaft: Man setzt sich für die Gesell­schaft ein, sei dies nun poli­tisch oder zivil­ge­sell­schaft­lich bei der Kir­che. Auch die Kir­chen sind kari­ta­tiv sehr engagiert.

Inwie­fern ist das Par­la­ment eine Elite?

Das Par­la­ment ist kein Mikro­kos­mos der Bevöl­ke­rung, son­dern des­sen Mit­glie­der gehö­ren einer gesell­schaft­li­chen Eli­te an. Eli­te defi­niert sich dabei zunächst über Bil­dung, Ein­kom­men und sozia­len Sta­tus. Teil der Eli­te zu sein, bedeu­tet aber auch, bestimm­te sozia­le Erwar­tun­gen zu erfül­len, ein­schliess­lich der regel­mäs­si­gen Teil­nah­me an Gottesdiensten.

Ihre The­se legt den Schluss nahe, Reli­gi­on sei Sache einer Eli­te. Stimmt das wirklich?

Dies inso­fern, als gera­de die katho­li­sche Kir­che stark hier­ar­chisch auf­ge­baut und dadurch eli­te­ge­prägt ist.

Adri­an Vatter

Adri­an Vat­ter ist Pro­fes­sor für Schwei­zer Poli­tik an der Uni­ver­si­tät Bern. Zusam­men mit sei­nem Team arbei­tet er an einer Neu­auf­la­ge des Buchs «Das poli­ti­sche System der Schweiz» (Nomos Ver­lag). In die­sem Zusam­men­hang wur­de die Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit der eid­ge­nös­si­schen Par­la­men­ta­rie­rin­nen und Par­la­men­ta­ri­er erhoben.

Adrian Vatter: «Der Ständerat ist eine Bastion des Katholizismus» - Lichtblick Römisch-katholisches Pfarrblatt der Nordwestschweiz
Adri­an Vat­ter, Pro­fes­sor für Schwei­zer Poli­tik an der Uni­ver­si­tät Bern / Foto: © zVg

Die Kir­chen­mit­glie­der bil­den zusam­men eine abso­lu­te Mehr­heit im Par­la­ment. Zeigt sich dies in den par­la­men­ta­ri­schen Diskussionen?

Nur sekun­där. Einer­seits sind vie­le Par­la­men­ta­rie­rin­nen und Par­la­men­ta­ri­er nur for­mal Mit­glied einer Kir­che, iden­ti­fi­zie­ren sich aber nicht mehr mit ihr. Aus­ser­dem wer­den vie­le The­men, die die Reli­gi­on betref­fen, auf kan­to­na­ler Ebe­ne gere­gelt. Das natio­na­le Par­la­ment hat hier nicht so viel zu ent­schei­den. Aller­dings gibt es durch­aus «moral­po­li­ti­sche» The­men wie Ster­be­hil­fe, Abtrei­bung, Organ­spen­de, Kon­zern­ver­ant­wor­tung, in die kon­fes­sio­nel­le Wert­hal­tun­gen indi­rekt ein­flies­sen kön­nen. Für die mei­sten Par­la­men­ta­rie­rin­nen und Par­la­men­ta­ri­er steht jedoch die Hal­tung der Par­tei im Vor­der­grund und nicht die Religionszugehörigkeit.

Die Par­tei­dis­zi­plin ist also grös­ser als die indi­vi­du­el­le reli­giö­se Werthaltung?

Ja, wir stel­len fest, dass die Frak­ti­ons­dis­zi­plin in den letz­ten 20 Jah­ren stark zuge­nom­men hat, ins­be­son­de­re bei Par­tei­en, die frü­her den indi­vi­du­el­len Hand­lungs­spiel­raum wei­ter offen lies­sen wie etwa die CVP oder die EVP – also genau jene Par­tei­en, bei denen die indi­vi­du­el­le Wert­vor­stel­lung auf­grund der Kon­fes­si­on einen wich­ti­gen Ein­fluss hat­te. Bei par­la­men­ta­ri­schen Ent­schei­dun­gen fol­gen die Par­la­men­ta­rie­rin­nen und Par­la­men­ta­ri­er heu­te in 98 Pro­zent der Abstim­mun­gen ihren Fraktionsvorgaben.

Dür­fen sie nicht von der Par­tei­li­nie abwei­chen oder wol­len sie es nicht?

Der Frak­ti­ons­chef oder die Frak­ti­ons­s­che­fin kann vor­ge­ben, dass Par­tei­mit­glie­der bei einem stra­te­gisch wich­ti­gen Geschäft nicht von der Par­tei­li­nie abwei­chen dür­fen.  Bei weni­ger wich­ti­gen Geschäf­ten haben sie mehr Handlungsspielraum.

Bei der Ster­be­hil­fe hat die Schweiz eine sehr libe­ra­le Gesetz­ge­bung, obschon die katho­li­sche Kir­che hier eine restrik­ti­ve Hal­tung ein­nimmt und Ster­be­hil­fe ablehnt.

Das ist Aus­druck der gene­rell libe­ra­len Gesetz­ge­bung, die wir in der Schweiz haben. Hier schlägt das frei­sin­nig-libe­ra­le Erbe der Bun­des­staats­grün­der durch. Ein Frei­sin­ni­ger, auch wenn er evan­ge­lisch oder katho­lisch ist, folgt eher der libe­ra­len Posi­ti­on der eige­nen Partei.

Es fällt auf, dass vie­le Mit­glie­der bür­ger­li­cher Par­tei­en Kir­chen­mit­glie­der sind. Gibt es einen Zusam­men­hang zwi­schen bür­ger­li­cher Poli­tik und Religion?

Das ist Aus­druck davon, dass Bür­ger­lich-Kon­ser­va­ti­ve grund­sätz­lich eher an der Kir­che als einer jahr­hun­der­te­al­ten Auto­ri­tät fest­hal­ten. Umge­kehrt gibt es bei der SP und den Grü­nen mehr Kon­fes­si­ons­lo­se. Das ent­spricht der lin­ken Hal­tung, sich für die indi­vi­du­el­le Eman­zi­pa­ti­on und Neue­run­gen ein­zu­set­zen und sich dar­um eher von der Kir­che zu entfernen.

In Zah­len

53%

Anteil der Kir­chen­mit­glie­der in der Bevölkerung 

75%

Anteil der Kir­chen­mit­glie­der im Ständerat

98%

Anteil der Par­la­men­ta­rie­rin­nen und Par­la­men­ta­ri­er, die bei par­la­men­ta­ri­schen Ent­schei­dun­gen ihren Frak­ti­ons­vor­ga­ben folgen.

Das erstaunt, weil sich die Kir­che im Auf­trag von Jesus Chri­stus für die Schwa­chen ein­set­zen soll­te, ein klas­si­sches The­ma der SP, oder für die Bewah­rung der Schöp­fung, ein klas­sisch grü­nes Thema.

Bei der Par­tei­grün­dung der Grü­nen waren solch kon­ser­va­ti­ve Ele­men­te wie Ach­tung vor der Schöp­fung noch The­ma. Im Ver­lauf der Jah­re hat sich das deut­lich ver­än­dert hin zu einer rot­grü­nen Poli­tik, die sich von hier­ar­chisch gepräg­ten Orga­ni­sa­tio­nen wie der katho­li­schen Kir­che distan­zie­ren möchte.

In der SVP haben die Katho­li­kin­nen und Katho­li­ken zuge­legt. Ist die Säku­la­ri­sie­rung auf dem Land ange­kom­men? Statt der CVP wählt man eine Par­tei, die unab­hän­gig von der Kon­fes­si­on den eige­nen Inter­es­sen mehr entspricht?

Ja, die SVP hat sich von einer Bau­ern- und Klein­ge­werb­ler­par­tei in den refor­mier­ten Mit­tel­land­kan­to­nen hin zu einer gesamt­schwei­ze­ri­schen Volks­par­tei gewan­delt. Mit dem Ende des Kal­ten Krie­ges ist es der SVP in den 90er Jah­ren gelun­gen, in die ursprüng­lich CVP-domi­nier­ten Lan­de der Inner- und Ost­schweiz vor­zu­drin­gen. Sie ist heu­te breit in der Bevöl­ke­rung verankert.

Der Anteil Kon­fes­si­ons­lo­ser im Stän­de­rat ist gegen­über der letz­ten Erhe­bung von 2017 unver­än­dert bei 14 Pro­zent. Wor­an liegt das?

Im Stän­de­rat haben wir eine Basti­on des Katho­li­zis­mus. Der Stän­de­rat wur­de ja 1848 ein­ge­führt, um die katho­li­schen Ver­lie­rer des Son­der­bund­krie­ges zu schüt­zen. Ich fin­de es bemer­kens­wert, dass das Stöck­li die­se Funk­ti­on offen­bar immer noch inne­hat. Hier zeigt die Träg­heit die­ser Insti­tu­ti­on: Wenn man ein­mal eine Regel ver­ab­schie­det hat, wirkt das noch fast 200 Jah­re spä­ter nach.

Bis wann wer­den die Kon­fes­si­ons­lo­sen auch im Par­la­ment eine Mehr­heit bilden?

Wenn der Trend  so wei­ter­geht, in spä­te­stens 20 Jah­ren. Wenn man sieht, wie rasch das in der Bevöl­ke­rung geschah, könn­te es auch frü­her sein.

Emp­fin­den Sie den Rück­gang der Kir­chen­mit­glie­der als einen Ver­lust für die Gesellschaft?

Wenn ein rei­ner Rück­zug ins Pri­va­te die Fol­ge ist und Men­schen sich nicht mehr für die Gesell­schaft oder für ande­re enga­gie­ren, dann ist es ein Ver­lust. Hier nimmt die Kir­che eine sehr wich­ti­ge Funk­ti­on wahr. Wenn die­ses Enga­ge­ment kom­pen­siert wer­den kann durch ande­re zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen wie NGO’s, dann ist es weni­ger schlimm.

Wel­cher Kon­fes­si­on gehö­ren Sie sel­ber an?

Mein Gross­va­ter war Pfar­rer in Kirch­berg und mei­ne Gross­mutter eine sehr enga­gier­te Pfar­rers­frau. Ich bin sel­ber noch Mit­glied der refor­mier­ten Kir­che, aber nicht in irgend­ei­ner Form engagiert.

Wes­halb sind Sie noch Mitglied?

Die­se Fra­ge stel­le ich mir tat­säch­lich immer wie­der. Ich brin­ge es nicht übers Herz aus­zu­tre­ten. Als mei­ne Eltern gestor­ben sind, emp­fand ich die kirch­li­che Bestat­tung als sehr schö­nen und wür­di­gen Rah­men. Hier lei­stet die Kir­che wirk­lich sinn­vol­le Arbeit. Auch die Unter­stüt­zung durch die Pfar­re­rin habe ich sehr posi­tiv erlebt. Aber wenn man all die nega­ti­ven Schlag­zei­len etwa im Bereich Miss­brauch liest, ist man schon ver­sucht, auszutreten.

Die­ser Arti­kel ist zuerst im «pfarr­blatt» Bern erschienen.

Sylvia Stam
mehr zum Autor
nach
soben