Der Einmischer
Karl Saurer war ein engagierter Filmemacher. Er hat seine Filme zuerst für seine Protagonistinnen und Protagonisten gemacht. Seine Sympathie galt den Widerständigen. Ein Werkbuch würdigt das filmische und soziale Wirken des Filmemachers.
Vor der Kirche brennt die Hexe und rundherum sitzen Blauring-Mädchen und staunen. Die Kamera ist nah an den Gesichtern. Sie zeigt verblüffte Primarschulkinder, die nicht so recht zu verstehen scheinen, was sie sehen, während die Leiterinnen der katholischen Jugendorganisation ein Tribunal inszenieren. Ihr Vorwurf: sexuelle Verführung und moralische Verrohung. Das Urteil: Tod auf dem Scheiterhaufen. Die Leiterinnen stecken die Hexe – ein in Leintücher gehülltes Holzgestell mit angehefteten Bildern von nackten Frauen aus Zeitschriften ausgeschnitten – in Brand. Wir befinden uns in den frühen 1970er Jahren und folgen dem Dokumentarfilm «Ruhe», einem Frühwerk des Einsiedler Regisseurs und Sozialaktivisten Karl Saurer. Der Film zeigt in anklagender und plakativer Weise eine enge und rigide Welt von damals.
Buchpräsentation und Film
2020 ist Karl Saurer unerwartet gestorben. Sein Nachlass wird von Elena M. Fischli aufgearbeitet. Dabei ist das Werkbuch «Filme für den kreativen Widerstand. Zum Wirken Karl Saurers 1943–2020» entstanden.
Am Donnerstag, 3. Oktober, um 20.30 Uhr findet die Präsentation des Werkbuchs im Kino Royal in Baden statt. Jakob Tanner, emeritierter Professor für Geschichte der Neuzeit, führt in die Entstehungszeit des Filmes «Ruhe» ein. Danach wird der Film gezeigt. Weitere Spieldaten auf karlsaurer-filme.ch
Kritisch engagierter Zeitgenosse
Die Botschaft ist einfach: Es darf nicht sein, dass Kinder systematisch gebrochen und zu braven Bürgerinnen und Bürgern und zu Konsumenten einer materialistischen Gesellschaft erzogen werden. Vielmehr muss es darum gehen ihr Potential zu erkennen und so zu fördern, dass sich die Kinder zu kritisch engagierten Zeitgenossinnen und Zeitgenossen entwickeln. Ein ebensolcher Zeitgenosse war Karl Saurer, als er im Alter von 27 Jahren die Hexenverbrennung filmte. Er hatte in Zürich, München und Köln Germanistik, Geschichte, Psychologie, Theater- und Filmwissenschaften studiert. Während des Studiums realisierte er verschiedene Theater- und Filmprojekte und schrieb Theaterkritiken für Schweizer Zeitungen. 1970 erhielten er und sein Studienfreund Erwin Keusch vom Schweizer Fernsehen den Auftrag, Beiträge für ein neues Jungendmagazin zu realisieren. Doch mit «Ruhe» fiel schon die erste Produktion der sechsteiligen Serie der Zensur zum Opfer.
«Ohne Utopie verkümmern Leidenschaft und Sehnsucht, Schaffensfreude und Sinn. Mische dich ein. Baue Dämme gegen Wellen von Mutlosigkeit, Gleichgültigkeit und Resignation. Vielleicht erfährst du nie, was dein Einsatz bewirkt, aber wenn du dich nicht einsetzt, bewirkst du nichts.»Karl Saurer
Solidarität mit den Widerständigen
Die Filmemacher nahmen die Zensur zum Anlass und realisierten 1973 postwendend ihr nächstes Filmprojekt unter dem unzweideutigen Titel «Es drängen sich keine Massnahmen auf oder Selbstzensur ist besser». Karl Saurer mischte sich in die öffentlichen Debatten und in den gesellschaftlichen Diskurs ein – provokativ und vor allem immer wieder kreativ. Sei es der Protest gegen das AKW Kaiseraugst («Kaiseraugst», 1975) oder die Stadtplanung Luzerns («Tatort Luzern», 1975), Karl Saurer war mit seiner Kamera zur Stelle, wenn es darum ging, Solidarität mit den Widerständigen zu markieren.
In «Das Unbehagen an der Vergangenheit» befragte er namhafte Schweizer Regisseure zu ihren filmischen Arbeiten über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. In «Kebab und Rosoli» von 1993 realisierte er zusammen mit seiner Lebenspartnerin Elena M. Fischli einen Film über Einheimische und Geflüchtete. Typisch für den Filmemacher war, dass er keinen Film über Menschen machte, sondern mit ihnen. In filmischen Miniaturen bekamen die Fremdarbeiterinnen und ‑arbeiter ein Gesicht, einen Namen und eine Geschichte.
Der Komplexität standhalten
Karl Saurer ist am 16. Juli 1943 in Gross bei Einsiedeln auf die Welt gekommen. Die ersten Jahre verbrachte er mit seiner Familie im bäuerlichen Dorf mit Blick auf den Sihlsee. Sein Blick machte aber nicht halt auf der Oberfläche, sondern richtete sich auch auf den Grund des Sees. Im Film «Der Traum vom grossen blauen Wasser» zeigte er, was die Energie-Pioniere am Anfang des vergangenen Jahrhunderts zu opfern bereit waren, um das Hochtal zu fluten und es zu einem Speicherbecken für die Stromproduktion zu machen. Karl Saurer lässt in seinem Film Zeitzeugen zu Wort kommen, die erzählen, wie sie im Einsiedler Hochtal enteignet worden waren und ihre angestammten Häuser verlassen mussten. Der Filmemacher liess sich nicht dazu hinreissen, den Konflikt in Schwarz-Weiss zu zeichnen, sondern hielt der Komplexität stand, stellte lieber Fragen, als vermeintlich einfache Antworten zu geben. 1952 zog die Familie Saurer vom See weg ins Einsiedler Klosterdorf. In der zweiten Sekundarklasse gründete Karl Saurer einen Filmclub im Kino Etzel. Dort habe alles angefangen, sagte Karl Saurer 1993 in einem Interview über den Beginn seiner Karriere im Film. Nach dem Sihlsee-Film führten ihn Einsiedler Auswanderer nach Nebraska. In «Steinauer Nebraska» erzählt er die Geschichte dreier Brüder, die aus wirtschaftlicher Not den Atlantik überqueren mit der Hoffnung im Gepäck, in der neuen Welt zu Wohlstand zu kommen. Die Erfolgsstory ist gleichzeitig die traurige Geschichte der Vertreibung und Ermordung der American Natives.
Gewaltfreier Widerstand
Die nächste Reise führte den Filmemacher nach Indien auf den Spuren eines Elefanten, der um 1550 von Kerala nach Wien reisen musste. In diesem Roadmovie nimmt der Ghandi-Aktivist P.V. Rajagopal den Weg des Elefanten erneut auf sich, um die Geschichte des beginnenden europäischen Kolonialismus aufzuzeigen und die vielen bis in die heutige Zeit andauernden Folgen. Seine letzte Filmpremiere feierte Karl Saurer 2012 an den Solothurner Filmtagen mit «Ahimsa». Dort zeigte er seinen Dokumentarfilm über die Basisbewegung Ekta Parishad mit ihrem Gründer P. V. Rajagopal, den der Filmemacher durch «Rajas Reise» kennengelernt hatte. Er zeigt die Geschichte einer indigenen Dorfgemeinschaft in Südindien, die sich mit Hilfe der Basisbewegung in einem jahrelangen, gewaltfreien Kampf das Recht auf Boden und Wasser erstritt. Karl Saurer hat «Ahimsa. Die Stärke von Gewaltfreiheit» mit einer indischen Crew gedreht. Ebenso gehörte es zu den Angewohnheiten des Filmemachers, seine Filme zuerst den Protagonistinnen und Protagonisten zu zeigen. Karl Saurer war sich stets bewusst, was er von ihnen bekommen hatte. Die Filme waren sein Dank dafür. «Ahimsa» machte nicht nur im Kino Karriere, sondern wird bis heute als Schulungsfilm in den Landrechtsbewegungen in Afrika und Lateinamerika gezeigt. «Einen Dokumentarfilm machen, heisst immer auch ihn nachher für die Auseinandersetzung nutzen, offen zu sein für Diskussionen, gerade auch mit anders Gesinnten», sagte Karl Saurer in einem Interview.