Der Ein­mi­scher
Karl Sau­rer in einer Dreh­pau­se zum Film «Ahim­sa» mit der Sozi­al­ak­ti­vi­stin Kastu­ri Etta Paris­had und Pra­vin Paga­re in Ori­ya.© Ele­na M. Fischli

Der Ein­mi­scher

Karl Saurer war ein engagierter Filmemacher. Er hat seine Filme zuerst für seine Protagonistinnen und Protagonisten gemacht. Seine Sympathie galt den Widerständigen. Ein Werkbuch würdigt das filmische und soziale Wirken des Filmemachers.


Vor der Kir­che brennt die Hexe und rund­her­um sit­zen Blau­ring-Mäd­chen und stau­nen. Die Kame­ra ist nah an den Gesich­tern. Sie zeigt ver­blüff­te Pri­mar­schul­kin­der, die nicht so recht zu ver­ste­hen schei­nen, was sie sehen, wäh­rend die Lei­te­rin­nen der katho­li­schen Jugend­or­ga­ni­sa­ti­on ein Tri­bu­nal insze­nie­ren. Ihr Vor­wurf: sexu­el­le Ver­füh­rung und mora­li­sche Ver­ro­hung. Das Urteil: Tod auf dem Schei­ter­hau­fen. Die Lei­te­rin­nen stecken die Hexe – ein in Lein­tü­cher gehüll­tes Holz­ge­stell mit ange­hef­te­ten Bil­dern von nack­ten Frau­en aus Zeit­schrif­ten aus­ge­schnit­ten – in Brand. Wir befin­den uns in den frü­hen 1970er Jah­ren und fol­gen dem Doku­men­tar­film «Ruhe», einem Früh­werk des Ein­sied­ler Regis­seurs und Sozi­al­ak­ti­vi­sten Karl Sau­rer. Der Film zeigt in ankla­gen­der und pla­ka­ti­ver Wei­se eine enge und rigi­de Welt von damals.

Der Einmischer - Lichtblick Römisch-katholisches Pfarrblatt der Nordwestschweiz

Film­still aus «Ruhe» von Karl Sau­rer, Han­nes Mei­er und Ger­hard Camen­zind 1970/72 © Ele­na M. Fischli

Buch­prä­sen­ta­ti­on und Film

2020 ist Karl Sau­rer uner­war­tet gestor­ben. Sein Nach­lass wird von Ele­na M. Fisch­li auf­ge­ar­bei­tet. Dabei ist das Werk­buch «Fil­me für den krea­ti­ven Wider­stand. Zum Wir­ken Karl Sau­rers 1943–2020» entstanden.

Am Don­ners­tag, 3. Okto­ber, um 20.30 Uhr fin­det die Prä­sen­ta­ti­on des Werk­buchs im Kino Roy­al in Baden statt. Jakob Tan­ner, eme­ri­tier­ter Pro­fes­sor für Geschich­te der Neu­zeit, führt in die Ent­ste­hungs­zeit des Fil­mes «Ruhe» ein. Danach wird der Film gezeigt. Wei­te­re Spiel­da­ten auf karlsaurer-filme.ch

Cover des Werk­buchs über Karl Sau­rer © Ele­na M. Fischli

Kri­tisch enga­gier­ter Zeitgenosse

Die Bot­schaft ist ein­fach: Es darf nicht sein, dass Kin­der syste­ma­tisch gebro­chen und zu bra­ven Bür­ge­rin­nen und Bür­gern und zu Kon­su­men­ten einer mate­ria­li­sti­schen Gesell­schaft erzo­gen wer­den. Viel­mehr muss es dar­um gehen ihr Poten­ti­al zu erken­nen und so zu för­dern, dass sich die Kin­der zu kri­tisch enga­gier­ten Zeit­ge­nos­sin­nen und Zeit­ge­nos­sen ent­wickeln. Ein eben­sol­cher Zeit­ge­nos­se war Karl Sau­rer, als er im Alter von 27 Jah­ren die Hexen­ver­bren­nung film­te. Er hat­te in Zürich, Mün­chen und Köln Ger­ma­ni­stik, Geschich­te, Psy­cho­lo­gie, Thea­ter- und Film­wis­sen­schaf­ten stu­diert. Wäh­rend des Stu­di­ums rea­li­sier­te er ver­schie­de­ne Thea­ter- und Film­pro­jek­te und schrieb Thea­ter­kri­ti­ken für Schwei­zer Zei­tun­gen. 1970 erhiel­ten er und sein Stu­di­en­freund Erwin Keusch vom Schwei­zer Fern­se­hen den Auf­trag, Bei­trä­ge für ein neu­es Jun­gend­ma­ga­zin zu rea­li­sie­ren. Doch mit «Ruhe» fiel schon die erste Pro­duk­ti­on der sechs­tei­li­gen Serie der Zen­sur zum Opfer.


«Ohne Uto­pie ver­küm­mern Lei­den­schaft und Sehn­sucht, Schaf­fens­freu­de und Sinn. Mische dich ein. Baue Däm­me gegen Wel­len von Mut­lo­sig­keit, Gleich­gül­tig­keit und Resi­gna­ti­on. Viel­leicht erfährst du nie, was dein Ein­satz bewirkt, aber wenn du dich nicht ein­setzt, bewirkst du nichts.»

Karl Sau­rer

Soli­da­ri­tät mit den Widerständigen

Die Fil­me­ma­cher nah­men die Zen­sur zum Anlass und rea­li­sier­ten 1973 post­wen­dend ihr näch­stes Film­pro­jekt unter dem unzwei­deu­ti­gen Titel «Es drän­gen sich kei­ne Mass­nah­men auf oder Selbst­zen­sur ist bes­ser». Karl Sau­rer misch­te sich in die öffent­li­chen Debat­ten und in den gesell­schaft­li­chen Dis­kurs ein – pro­vo­ka­tiv und vor allem immer wie­der krea­tiv. Sei es der Pro­test gegen das AKW Kai­ser­augst («Kai­ser­augst», 1975) oder die Stadt­pla­nung Luzerns («Tat­ort Luzern», 1975), Karl Sau­rer war mit sei­ner Kame­ra zur Stel­le, wenn es dar­um ging, Soli­da­ri­tät mit den Wider­stän­di­gen zu markieren.

In «Das Unbe­ha­gen an der Ver­gan­gen­heit» befrag­te er nam­haf­te Schwei­zer Regis­seu­re zu ihren fil­mi­schen Arbei­ten über die Rol­le der Schweiz im Zwei­ten Welt­krieg. In «Kebab und Roso­li» von 1993 rea­li­sier­te er zusam­men mit sei­ner Lebens­part­ne­rin Ele­na M. Fisch­li einen Film über Ein­hei­mi­sche und Geflüch­te­te. Typisch für den Fil­me­ma­cher war, dass er kei­nen Film über Men­schen mach­te, son­dern mit ihnen. In fil­mi­schen Minia­tu­ren beka­men die Fremd­ar­bei­te­rin­nen und ‑arbei­ter ein Gesicht, einen Namen und eine Geschichte.

Film­bild aus «Der Traum vom gros­sen blau­en Was­ser» 1993 © Ele­na M. Fischli

Der Kom­ple­xi­tät standhalten

Karl Sau­rer ist am 16. Juli 1943 in Gross bei Ein­sie­deln auf die Welt gekom­men. Die ersten Jah­re ver­brach­te er mit sei­ner Fami­lie im bäu­er­li­chen Dorf mit Blick auf den Sihl­see. Sein Blick mach­te aber nicht halt auf der Ober­flä­che, son­dern rich­te­te sich auch auf den Grund des Sees. Im Film «Der Traum vom gros­sen blau­en Was­ser» zeig­te er, was die Ener­gie-Pio­nie­re am Anfang des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts zu opfern bereit waren, um das Hoch­tal zu flu­ten und es zu einem Spei­cher­becken für die Strom­pro­duk­ti­on zu machen. Karl Sau­rer lässt in sei­nem Film Zeit­zeu­gen zu Wort kom­men, die erzäh­len, wie sie im Ein­sied­ler Hoch­tal ent­eig­net wor­den waren und ihre ange­stamm­ten Häu­ser ver­las­sen muss­ten. Der Fil­me­ma­cher liess sich nicht dazu hin­reis­sen, den Kon­flikt in Schwarz-Weiss zu zeich­nen, son­dern hielt der Kom­ple­xi­tät stand, stell­te lie­ber Fra­gen, als ver­meint­lich ein­fa­che Ant­wor­ten zu geben. 1952 zog die Fami­lie Sau­rer vom See weg ins Ein­sied­ler Klo­ster­dorf. In der zwei­ten Sekun­dar­klas­se grün­de­te Karl Sau­rer einen Film­club im Kino Etzel. Dort habe alles ange­fan­gen, sag­te Karl Sau­rer 1993 in einem Inter­view über den Beginn sei­ner Kar­rie­re im Film. Nach dem Sihl­see-Film führ­ten ihn Ein­sied­ler Aus­wan­de­rer nach Nebras­ka. In «Stein­au­er Nebras­ka» erzählt er die Geschich­te drei­er Brü­der, die aus wirt­schaft­li­cher Not den Atlan­tik über­que­ren mit der Hoff­nung im Gepäck, in der neu­en Welt zu Wohl­stand zu kom­men. Die Erfolgs­sto­ry ist gleich­zei­tig die trau­ri­ge Geschich­te der Ver­trei­bung und Ermor­dung der Ame­ri­can Natives.

Film­bild aus «Rajas Rei­se» 2007 © Ele­na M. Fischli

Gewalt­frei­er Widerstand

Die näch­ste Rei­se führ­te den Fil­me­ma­cher nach Indi­en auf den Spu­ren eines Ele­fan­ten, der um 1550 von Kera­la nach Wien rei­sen muss­te. In die­sem Road­mo­vie nimmt der Ghan­di-Akti­vist P.V. Rajag­o­pal den Weg des Ele­fan­ten erneut auf sich, um die Geschich­te des begin­nen­den euro­päi­schen Kolo­nia­lis­mus auf­zu­zei­gen und die vie­len bis in die heu­ti­ge Zeit andau­ern­den Fol­gen. Sei­ne letz­te Film­pre­mie­re fei­er­te Karl Sau­rer 2012 an den Solo­thur­ner Film­ta­gen mit «Ahim­sa». Dort zeig­te er sei­nen Doku­men­tar­film über die Basis­be­we­gung Ekta Paris­had mit ihrem Grün­der P. V. Rajag­o­pal, den der Fil­me­ma­cher durch «Rajas Rei­se» ken­nen­ge­lernt hat­te. Er zeigt die Geschich­te einer indi­ge­nen Dorf­ge­mein­schaft in Süd­in­di­en, die sich mit Hil­fe der Basis­be­we­gung in einem jah­re­lan­gen, gewalt­frei­en Kampf das Recht auf Boden und Was­ser erstritt. Karl Sau­rer hat «Ahim­sa. Die Stär­ke von Gewalt­frei­heit» mit einer indi­schen Crew gedreht. Eben­so gehör­te es zu den Ange­wohn­hei­ten des Fil­me­ma­chers, sei­ne Fil­me zuerst den Prot­ago­ni­stin­nen und Prot­ago­ni­sten zu zei­gen. Karl Sau­rer war sich stets bewusst, was er von ihnen bekom­men hat­te. Die Fil­me waren sein Dank dafür. «Ahim­sa» mach­te nicht nur im Kino Kar­rie­re, son­dern wird bis heu­te als Schu­lungs­film in den Land­rechts­be­we­gun­gen in Afri­ka und Latein­ame­ri­ka gezeigt. «Einen Doku­men­tar­film machen, heisst immer auch ihn nach­her für die Aus­ein­an­der­set­zung nut­zen, offen zu sein für Dis­kus­sio­nen, gera­de auch mit anders Gesinn­ten», sag­te Karl Sau­rer in einem Interview.

Eva Meienberg
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