Der Bischof, der den Jura­kon­flikt miterlebte

Der Bischof, der den Jura­kon­flikt miterlebte

«Mit Respekt – das liegt mir am Herzen»

Der juras­si­sche Weih­bi­schof Denis Theu­r­il­lat erzählt, wie er den Jura­kon­flikt erlebt hat

Im Inter­view mit «Kir­che heu­te» berich­tet Weih­bi­schof Denis Theu­r­il­lat, wie er als Juras­sier und als Prie­ster den Jura­kon­flikt mit­er­lebt hat. Wesent­lich ist ihm der Respekt vor den Über­zeu­gun­gen ande­rer Menschen. Sie sind 1950 in Epau­vil­lers im Clos du Doubs gebo­ren. Wie war es für Ihre Fami­lie, dass das Dorf damals zum Kan­ton Bern gehörte?Weih­bi­schof Denis Theu­r­il­lat: Als Fami­lie Theu­r­il­lat waren wir Juras­sier. Mei­ne Eltern waren sehr inter­es­siert an der Zukunft des Juras, aber die Fra­ge «Bern oder Jura» stand für sie nicht im Vor­der­grund. Mein Vater war Gemein­de­prä­si­dent von Epau­vil­lers, spä­ter auch mein zweit­äl­te­ster Bru­der André, aber in der Jura­fra­ge war die Fami­lie nicht direkt aktiv.Wie haben Sie als Kind mit­be­kom­men, dass es im Jura Span­nun­gen mit Bern gab?Es gab bekann­te Per­sön­lich­kei­ten im Jura, die sich für die Unab­hän­gig­keit ein­ge­setzt haben. Von ihnen hör­te ich als Kind und als Jugend­li­cher. Und es gab jedes Jahr die Fête du peu­ple juras­si­en in Dels­berg, das war etwas Kon­kre­tes für uns. Eine Ver­samm­lung aller Juras­sier, wo die Hym­ne «La Rau­ra­ci­en­ne» gesun­gen wur­de: «Du lac de Bien­ne aux por­tes de la France / L’e­s­poir mûrit dans l’ombre des cités …». Das mach­te mir klar, dass die Juras­sier ihre Frei­heit von Bern haben woll­ten. Seit dem Wie­ner Kon­gress von 1815 wuss­ten die Juras­sier, dass mit ihrer poli­ti­schen Zuge­hö­rig­keit etwas nicht ganz stimm­te, in der Kul­tur, in der Spra­che, im All­tag. Seit­her ist viel pas­siert, es gab Kampf, Streit, Span­nun­gen, auch Gewalt. Für mich ist wich­tig: Jede Per­son hat das Recht, ihre Über­zeu­gung zu haben. Wesent­lich ist der Respekt.Waren Sie selbst Mit­glied der Béliers? Haben Sie an Aktio­nen teilgenommen? (Sehr bestimmt:) Nein, mei­ne Brü­der auch nicht. Ich glau­be, das hat mit der Phi­lo­so­phie mei­nes Vaters zu tun. Er war eine star­ke Per­sön­lich­keit. Sei­ne Hal­tung war: Wir müs­sen die Augen offen hal­ten und uns unse­rer Her­kunft bewusst sein. Wir müs­sen ein gutes Gleich­ge­wicht in unse­ren poli­ti­schen Enga­ge­ments fin­den.Was war der Kern des Pro­blems der Juras­sier im Kan­ton Bern?(Denkt lan­ge nach:) Dazu kommt mir der Wie­ner Kon­gress in den Sinn. Es hat mit den neu­en Gren­zen zu tun, die 1815 gezo­gen wur­den. Damals wur­de der Jura vom Wie­ner Kon­gress dem Kan­ton Bern ange­schlos­sen. Ich bin kein Spe­zia­list der Geschich­te. Die Kern­fra­ge ist, so mei­ne ich, eine Fra­ge der Iden­ti­tät. Wir sind Juras­sier und eben nicht Ber­ner. Das hat mit der Kul­tur zu tun, mit der Spra­che, eben mit der Geschich­te. Und damit, dass die Juras­sier den Wil­len hat­ten, ein eige­nes Volk zu wer­den.Spiel­te es für die Ein­stel­lung der Leu­te eine Rol­le, wel­cher Kon­fes­si­on sie angehörten? Ich den­ke nicht. Man sagt manch­mal, dass es einen Ein­fluss hat­te, aber von mir aus gese­hen ist es nicht so. Auf der Ber­ner Sei­te gab es auch Katho­li­ken, auf der juras­si­schen Sei­te auch Refor­mier­te. Der Kul­tur­kampf des 19. Jahr­hun­derts war ein Kampf der Kon­fes­sio­nen. Aus die­ser Erfah­rung ist spä­ter die öku­me­ni­sche Bewe­gung ent­stan­den. In mei­ner Zeit als Pfar­rer in Mal­ler­ay-Bévil­ard im Süd­ju­ra (1985 bis 1997, die Red.) leb­ten in die­sen Dör­fern etwa ein Drit­tel Katho­li­ken und eine Mehr­heit von Refor­mier­ten. Da hat mir ein frü­he­rer Pfar­rer gesagt: «Denis, ver­giss nicht, du bist auch Pfar­rer der Refor­mier­ten.» Natür­lich gilt das umge­kehrt auch: Der refor­mier­te Pfar­rer ist auch Pfar­rer für die Katho­li­ken. Das habe ich nie mehr ver­ges­sen. Denn man lebt zusam­men. In Mal­ler­ay-Bévil­ard konn­ten wir immer einen gemein­sa­men Weg mit den Refor­mier­ten gehen.Haben die Kir­chen­mit­glie­der von Ihnen als Prie­ster erwar­tet, dass Sie Par­tei ergreifen? Die Leu­te wuss­ten schon, dass ich mei­ne Über­zeu­gung habe und ein Juras­sier bin. Aber ich war abso­lut Prie­ster für alle. Einen gros­sen Teil mei­ner Prie­ster­lauf­bahn habe ich im Süd­ju­ra gear­bei­tet, da war ich Prie­ster für alle, egal auf wel­cher Sei­te sie stan­den. Es wäre gra­vie­rend gewe­sen, wenn ich eine poli­ti­sche Hal­tung über­nom­men hät­te. So wäre mei­ne Arbeit nicht mög­lich gewe­sen. In unse­ren Pfar­rei­en gab es sowohl sehr enga­gier­te Ber­ner wie auch Juras­sier. Ich habe Freun­de und Bekann­te, die Ber­ner sind. Klar, in einer klei­nen Run­de gab es auch mal enga­gier­te Dis­kus­sio­nen. Druck­ver­su­che habe ich kei­ne erlebt, und ich hät­te das auch nicht akzep­tiert.Wie hat sich in Ihrer Zeit die Kir­che zum Jura­kon­flikt verhalten?Eine Ein­mi­schung der Kir­che wäre kata­stro­phal gewe­sen. Theo­lo­gisch gespro­chen, ist die Kir­che der Leib Chri­sti und muss über den irdi­schen Strei­tig­kei­ten ste­hen. Das heisst nicht, dass es ihr gleich­gül­tig ist, was in der Gesell­schaft pas­siert – das zeigt etwa die Enzy­kli­ka «Fra­tel­li tut­ti» von Papst Fran­zis­kus sehr deut­lich. Auch sei­ne kürz­li­che Rei­se in den Irak macht klar, dass Fran­zis­kus sich als Bru­der aller Men­schen sieht.1975 und 1976  wur­den Sie in Dels­berg zum Dia­kon und in Saignelé­gier zum Prie­ster geweiht, von 1976 bis 1980 waren Sie Vikar in Bas­se­court im Bezirk Dels­berg. Das waren die Jah­re, als der Kan­ton Jura und die Tren­nung von Bern Wirk­lich­keit wur­den. Wie haben sich Prie­ster und Kir­che im Jura zu den Abstim­mun­gen jener Jah­re verhalten?Die Kir­che hat eine Fro­he Bot­schaft zu ver­kün­di­gen. Die gros­se Mehr­heit der Gläu­bi­gen in die­sen Gebie­ten hat sich für die Unab­hän­gig­keit des Juras ein­ge­setzt. Aber die Posi­ti­on der Kir­che war natür­lich nicht zuvor­derst im Umzug, bei den Fah­nen. Denn es gab auch im Jura eine Min­der­heit für den Kan­ton Bern. Das sind auch Men­schen. Das Evan­ge­li­um ist für alle da! Das ist ja mein Wahl­spruch als Bischof: Das Evan­ge­li­um wagen. Sicher, als jun­ger Prie­ster in Bas­se­court habe ich die Erfah­rung gemacht: Jetzt beginnt eine neue Etap­pe für mein Volk. Danach habe ich in den Tälern von St-Imier und Tavan­nes gelebt, die bei Bern blie­ben. Wir haben mit bei­den Rea­li­tä­ten zu leben, mit den Ber­nern und den Juras­si­ern. Es war kein Krieg der Kon­fes­sio­nen. Es war ein Kampf um das Ziel, dass die Men­schen ihre Iden­ti­tät leben kön­nen.Wie waren Ihre Gefüh­le, als der Kan­ton Jura gegrün­det wurde?Das war eine gros­se Freu­de. Ich bin mit mei­nen Wur­zeln als Juras­sier auf­ge­wach­sen, bis die­ses Gebiet als Kan­ton aner­kannt wur­de. In die­sem Moment gab es eine Explo­si­on der Freu­de. Was wir als instän­di­gen Wunsch in uns tru­gen, ist zur Rea­li­tät gewor­den. Das ist etwas Wun­der­ba­res. Nicht alle Men­schen kön­nen die­se Erfah­rung machen in ihrem Leben. Aber immer mit dem Respekt für die Mei­nun­gen ande­rer Men­schen! Seit mei­ner Bischofs­wei­he im Jahr 2000 bin ich auch resi­die­ren­der Dom­herr des Kan­tons Bern. Damit kann ich gut leben: Mit mei­nen Über­zeu­gun­gen, aber im Respekt und im Dia­log mit ande­ren Über­zeu­gun­gen. Als ein­mal an einem Fest ein Pot­pour­ri aus Kan­tons­hym­nen gespielt wur­de, war ich ganz über­rascht, als plötz­lich die juras­si­sche Hym­ne «La Rau­ra­ci­en­ne» erklang. Ich stand sofort auf und sang mit, ich konn­te nicht schwei­gen!Nach der Grün­dung des Kan­tons kon­zen­trier­te sich der Kon­flikt auf den Ber­ner Jura. Wie hat sich das in Ihrer Arbeit als Prie­ster im Süd­ju­ra von 1980 bis 1997 ausgewirkt? Die Span­nung ist immer noch da. Wenn ich Leu­te aus dem Jura tref­fe, weiss ich oft, ob jemand Ber­ner oder Juras­sier ist. In mei­nen zwölf Jah­ren in der Pfar­rei Mal­ler­ay-Bévil­ard war die Span­nung im All­tag zu spü­ren, beson­ders wenn Anläs­se der Ber­ner oder der Juras­sier statt­fan­den. Aber man muss gemein­sam einen Weg fin­den, man muss den stän­di­gen Dia­log wei­ter­füh­ren. Mit Respekt, das liegt mir sehr am Her­zen. Die Lust auf ein neu­es Zusam­men­sein wächst und wirkt, das habe ich erlebt in unse­rer Pfar­rei. Manch­mal spür­te ich, dass der Dia­log nicht mög­lich war, auch das habe ich erlebt. Die Jugend­li­chen, wenn auch nicht alle, waren eher offe­ner als die Eltern oder Gross­el­tern. Das fin­de ich posi­tiv.Unter den Katho­li­ken im Süd­ju­ra gab es vie­le, die aus katho­li­schen Län­dern stamm­ten. Haben die Migran­ten im Jura­kon­flikt auch Par­tei ergriffen? Es gab ein­zel­ne, die sich für den Jura oder für Bern enga­giert haben. Aber die Migran­tin­nen und Migran­ten waren im Jura, weil sie Arbeit gefun­den hat­ten. Das stand für sie im Vor­der­grund, und das woll­ten sie nicht gefähr­den.Als Bischofs­vi­kar des gan­zen fran­zö­sisch­spra­chi­gen Teils des Bis­tums Basel (Jura Pasto­ral) von 1997 bis 2000, als Weih­bi­schof und Dom­herr des Kan­tons Bern seit 2000 waren Sie auch Ansprech­part­ner der Kan­tons­re­gie­run­gen in Dels­berg und in Bern. Haben Sie dabei heik­le Momen­te erlebt?Ich bin noch bis Ende Juni Dom­herr, habe mich aber an der Sit­zung von Mit­te März im Dom­ka­pi­tel ver­ab­schie­det. Die Bezie­hun­gen waren sehr gut. Dis­kus­sio­nen führ­ten wir mit Ein­sicht und Bedacht, aber ich hat­te in die­sem Bereich auch nicht direkt gros­se The­men zu bear­bei­ten. Für die Behör­den in Dels­berg war ich «unser Weih­bi­schof Denis». Bei mei­ner Ernen­nung zum Weih­bi­schof hat mich Bischof Kurt Koch gefragt, ob ich ein­ver­stan­den sei, das Amt als resi­die­ren­der Dom­herr des Kan­tons Bern zu über­neh­men. Ich frag­te ihn zuerst: «Ich als Juras­sier?» Aber ich konn­te es gut akzep­tie­ren, weil ich 17 Jah­re als Prie­ster im Kan­ton Bern gear­bei­tet habe. Und die Regie­rung in Bern hat sofort Ja gesagt. Ich kann gut mit unter­schied­li­chen Rea­li­tä­ten leben. In mei­ner Jugend woll­te ich Mönch wer­den; aber als mir ein Freund sag­te, ich müs­se in der Welt blei­ben, habe ich das als Wort des Hei­li­gen Gei­stes ver­stan­den. Den­noch gibt es in mir drin immer auch einen Mönch. Eben­so bin ich Juras­sier und seit 21 Jah­ren auch resi­die­ren­der Dom­herr des Kan­tons Bern.Seit der Tei­lung des Juras hat sich der Kon­flikt vor allem auf die Stadt Mou­tier kon­zen­triert. Was braucht es aus Ihrer Sicht und Erfah­rung für eine fried­li­che und gute Zukunft von Moutier?Unab­hän­gig davon, wie das Resul­tat der Abstim­mung aus­fällt*, wer­den wir in Mou­tier sicher Mis­sio­na­re und Mis­sio­na­rin­nen brau­chen, die auf­ste­hen und sagen: Jetzt ist der Ent­scheid gefal­len, damit müs­sen wir leben und unse­ren Weg wei­ter­ge­hen. Es gibt kei­ne ande­re Lösung mehr. Das Resul­tat vor­aus­zu­sa­gen, ist unmög­lich – so oder so wird es gros­se Ent­täu­schung und enor­me Freu­de geben. Unse­re Kir­chen wer­den eine wich­ti­ge Auf­ga­be haben, um zur Ruhe bei­zu­tra­gen, mit der Pre­digt, mit der Arbeit in den Pfar­rei­en, mit dem Dia­log – in bei­den Kon­fes­sio­nen. Ich glau­be an die Prä­senz des Hei­li­gen Gei­stes, der in den Her­zen wir­ken muss. Und ich bin vol­ler Ver­trau­en, dass der Weg wei­ter­ge­hen kann. Es ist aber eine unglaub­lich heik­le Mis­si­on. Ich hof­fe und bete, dass es kei­ne Gewalt gibt.Sie sind in der Regi­on von St-Ursan­ne gebo­ren. Was bedeu­ten Ihnen der Ort St-Ursan­ne und der hei­li­ge Ursi­ci­nus?Als Kind wohn­te ich auf dem Hügel­zug des Clos du Doubs. St-Ursan­ne war für unse­re Fami­lie immer ein wun­der­ba­res Städt­chen. Je älter ich wur­de, umso mehr wur­de mir bewusst, dass der Name der Stadt auch der Name des Hei­li­gen ist. Das Bild von Ursi­ci­nus als Ein­sied­ler in die­ser Gegend hat sich mir ein­ge­prägt. Vie­le Leu­te stei­gen zur Ein­sie­de­lei hoch für das Gebet, die Medi­ta­ti­on und wegen der Stil­le. Der hei­li­ge Ursi­ci­nus hat zu sei­ner Zeit Ver­trau­en im Volk gefun­den und wird seit Jahr­hun­der­ten als Patron der Stadt ver­ehrt. Von den Hei­li­gen des Juras steht er mir sicher am näch­sten.Inter­view: Chri­sti­an von Arx* Das Gespräch wur­de am 18. März geführt, zehn Tage vor der Abstim­mung in Mou­tier. Das Resul­tat vom 28. März lau­te­te: 2114 Ja (54,9 Pro­zent) und 1740 Nein zum Über­tritt in den Kan­ton Jura.  [esf_gallery columns=“1”] 
Christian von Arx
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