Den Rah­men sprengen

Den Rah­men sprengen

Nume­ri 11,25–29In jenen Tagen kam der Herr in der Wol­ke her­ab und rede­te mit Mose. Er nahm etwas von dem Geist, der auf ihm ruh­te, und leg­te ihn auf die sieb­zig Älte­sten. Sobald der Geist auf ihnen ruh­te, gerie­ten sie in pro­phe­ti­sche Ver­zückung, die kein Ende nahm. Zwei Män­ner aber waren im Lager geblie­ben; der eine hiess Eldad, der ande­re Medad. Auch über sie war der Geist gekom­men. Sie stan­den in der Liste, waren aber nicht zum Offen­ba­rungs­zelt hin­aus­ge­gan­gen. Sie gerie­ten im Lager in pro­phe­ti­sche Ver­zückung. Ein jun­ger Mann lief zu Mose und berich­te­te ihm: Eldad und Medad sind im Lager in pro­phe­ti­sche Ver­zückung gera­ten. Da ergriff Josua, der Sohn Nuns, der von Jugend an der Die­ner des Mose gewe­sen war, das Wort und sag­te: Mose, mein Herr, hin­de­re sie dar­an! Doch Mose sag­te zu ihm: Willst du dich für mich erei­fern? Wenn nur das gan­ze Volk des Herrn zu Pro­phe­ten wür­de, wenn nur der Herr sei­nen Geist auf sie alle legte!Ein­heits­über­set­zung 

Den Rah­men sprengen

Kürz­lich war mein Vater zu Besuch und erzähl­te unse­ren Kin­dern aus sei­ner eige­nen Kind­heit. Gebannt hör­ten ihm mei­ne Jungs zu und hin­gen ihm förm­lich an den Lip­pen. Sie waren fas­zi­niert davon, wie er mit wenig finan­zi­el­len Res­sour­cen, dafür mit viel Krea­ti­vi­tät und Impro­vi­sa­ti­ons­ver­mö­gen den ziem­lich her­un­ter­ge­kom­me­nen Bau­ern­hof wie­der auf­bau­en konn­te, nach­dem er teil­wei­se sogar zusam­men­ge­stürzt war. Wie er, um an das Bau­ma­te­ri­al her­an­zu­kom­men, sich einen alten Trax kauf­te und ande­re bau­fäl­li­ge Bau­ern­häu­ser abriss.Er erwähn­te auch, wie er auf­ge­wach­sen war, und dass er auf­grund ein­schlä­gi­ger Erfah­run­gen in der Kind­heit vor Amts­per­so­nen lan­ge Zeit einen über­gros­sen und gera­de­zu läh­men­den Respekt hat­te. «Aha!», dach­te ich mir, «das kommt mir bekannt vor!», und ich über­leg­te eine Wei­le, ob ich das mög­li­cher­wei­se von ihm geerbt hat­te. Bis in mei­ne Stu­di­en­zeit hin­ein waren für mich Leh­rer, Ärz­te, Poli­zi­sten und Vor­ge­setz­te Per­so­nen, denen man in kei­ner Wei­se wider­spre­chen und vor denen man die eige­nen Inter­es­sen hin­ten­an­stel­len soll. Erst auf­grund des Stu­di­ums und der eige­nen the­ra­peu­ti­schen Aus­bil­dung wur­de ich dies­be­züg­lich frei und lern­te, mich selbst zu behaup­ten und selbst­be­wusst hin­zu­ste­hen.Heu­te habe ich beruf­lich viel mit Jugend­li­chen zu tun. Sie sind selbst­be­wuss­ter, als ich das in ihrem Alter war, und getrau­en sich, für ihre eige­ne Mei­nung ein­zu­ste­hen. Als Leh­rer bin ich her­aus­ge­for­dert, mich dar­auf ein­zu­las­sen. Obwohl das gele­gent­lich auch etwas müh­sam sein kann, befür­wor­te ich es und ach­te in der Erzie­hung der eige­nen Kin­der dar­auf, dass sie zu selbst­be­wuss­ten Per­sön­lich­kei­ten her­an­wach­sen. Viel zu lan­ge wur­den Men­schen klein gehal­ten, damit sie für die Insti­tu­tio­nen Schu­le, Kir­che und Staat nicht unbe­quem wur­den.Dabei den­ke ich an das Stan­des­we­sen des Mit­tel­al­ters, aber auch an die kla­ren Rol­len­zu­wei­sun­gen zwi­schen Mann und Frau in der Zeit der bür­ger­li­chen Fami­lie. An den Gren­zen gab es und gibt es bis heu­te insti­tu­tio­nel­le oder selbst­er­nann­te «Wäch­ter», die minu­ti­ös auf­pas­sen, dass nie­mand aus der ihm zuge­wie­se­nen Rol­le und Funk­ti­on aus­bricht.In der obi­gen Text­pas­sa­ge geht es um die Fra­ge, wel­chen Stel­len­wert das Cha­ris­ma und die Beru­fung auch aus­ser­halb des Krei­ses der Erwähl­ten hat. Moses, der in sei­ner Per­son den insti­tu­tio­nel­len Rah­men ver­kör­pert, sprengt ihn selbst, indem er Josua zurück­weist. «Willst du dich für mich erei­fern? Wenn nur das gan­ze Volk des Herrn zu Pro­phe­ten wür­de, wenn nur der Herr sei­nen Geist auf sie alle leg­te!»Es ist das Cha­ris­ma, wor­auf es ankommt. Viel­leicht habe ich als Theo­lo­ge viel zu lan­ge auf insti­tu­tio­nel­le Bevoll­mäch­ti­gung gewar­tet, statt dem eige­nen Cha­ris­ma zu fol­gen. Und letz­ten Endes geht die Auf­for­de­rung an uns alle. Wir sind dazu auf­ge­ru­fen, Kir­che zu gestal­ten und zu ver­än­dern. Wir tun dies mit den Bega­bun­gen, die wir mit­brin­gen und mit der dazu­ge­hö­ren­den «Be-Gei­ste­rung». Wir tun es mit dem Weni­gen, was wir haben. In Zei­ten zuneh­mend ver­wai­ster Pfar­rei­en kommt es noch viel stär­ker dar­auf an, dass wir uns ein­brin­gen und uns nicht vom ins­titutionellen Geha­be auf­hal­ten zu las­sen.Mathi­as Jäg­gi, Theo­lo­ge und Sozi­al­ar­bei­ter, arbei­tet als Berufs­schul­leh­rer und Fachhochschuldozent
Redaktion Lichtblick
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