Das christliche Heilmittel ist die Nächstenliebe
- Was würde Jesus unternehmen, weilte er in diesen Tagen unter uns? Was kann die Religion der Medizin bieten? Hilft beten in schwierigen Situationen? Der gläubige Arzt Urs Pilgrim aus Muri antwortet im Horizonte-Gespräch auf diese Fragen.
- Stille, Wertschätzung, Respekt, Verbundenheit: Empfehlungen von vier weiteren Stimmen schenken Hoffnung und Zuversicht.
Was hilft?
Diese Frage wurde über das Gespräch mit Urs Pilgrim hinaus in den Kirchenaargau gesandt. Vier Antworten kamen zusammen:
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«Sich mehr zurückzuziehen, mit sich oder ganz wenigen Menschen allein zu sein, lässt Raum für die Rückbesinnung auf das, was im Leben wesentlich ist und für die Übung, sich in Stille auszuhalten», empfiehlt Claudia Nothelfer von der Fachstelle Propstei und Bildung. Die Kontemplationslehrerin weiter: «Wir können wahrnehmen, dass wir zu jeder Zeit miteinander verbunden sind, auch wenn wir uns nicht sehen, nicht gemeinsam feiern. Liebe übersteigt Raum und Zeit.»
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Kurt Adler-Sacher, Leiter der Fachstelle Diakonie: «Gerade in dieser Zeit, wo wir uns nur auf Distanz begegnen sollten, scheint es mir wichtig, einander ‹Nähe› zu zeigen. In Kontakt bleiben – einen Brief von Hand schreiben, ein Telefongespräch führen – sind Zeichen von Dankbarkeit und Wertschätzung.»
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Susi Horvath, Leiterin der Notschlafstelle Aargau, findet: «Unsere tägliche Arbeit in der Notschlafstelle mit Menschen, die sich in einer schwierigen Lebenssituation befinden, erfordert von uns als Team in jeder Situation einen respekt- und würdevollen Umgang. Auch in dieser schwierigen Coronazeit sind wir stets bemüht, unseren Gästen ein sicheres und geborgenes Dach für eine Nacht zu geben.»
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Schliesslich Priorin Irene Gassmann vom Kloster Fahr: «Für mich werden in diesen Tagen Texte aus der Heiligen Schrift sehr konkret und aktuell. Sie ermutigen, sich aufzurichten und Ausschau zu halten nach dem Licht und dem Guten, das rund um uns herum immer auch keimt. Ebenso wertvoll erlebe ich in diesen Tagen die Gemeinschaft, wenn wir öffentlich Gottesdienst feiern. Zum Beispiel das ‹Gebet am Donnerstag›. Auch wenn nur wenige Menschen kommen, so ist eine ganz grosse Kraft spürbar. Das was Jesus gesagt hat: ‹Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen›, wird Wirklichkeit und erfahrbar.»
Ob der «Stern von Bethlehem» damals wirklich zu sehen war und astronomisch erklärt werden kann, darüber streiten Gelehrte schon seit Jahrhunderten. Auf jeden Fall wird als Erklärung eine sogenannte Konjunktion der Planeten Jupiter und Saturn für sehr wahrscheinlich gehalten. Solch enge Begegnungen dieser beiden Planeten passieren nur etwa alle zwanzig Jahre. Wie es der Zufall will, tritt dieses Phänomen heuer zum Weihnachtsfest auf. Am 21. Dezember überholt Jupiter auf seiner Bahn Saturn. Das Magazin «Spektrum der Wissenschaft» berichtet: «Dabei kommen sich die beiden Riesen am Himmel bis auf knapp sechs Bogenminuten nahe.» Für das blosse Augen verschmelzen sie zu einem Objekt. So könnte es auch damals in Judäa gewesen sein, als der «König der Könige» geboren wurde.
Ein «religiöser Rosinenpicker» sein
Was würde Jesus unternehmen, weilte er in diesen Tagen unter uns? «Er würde die Nächstenliebe leben», antwortet Urs Pilgrim ohne zu zögern. «Er würde sich fragen, wo es Menschen gibt, denen er helfen kann», so der pensionierte Murianer Facharzt für Innere Medizin und Rheumatologie. «Jesus würde auf sie zugehen und vorleben, dass es sich lohnt, die Mitmenschen liebevoll zu behandeln.» Urs Pilgrim hat diesen Sommer ein Buch veröffentlicht mit dem Titel «Was hilft? – Medizin und Religion in Bildern aus dem Kloster Muri». Damit führt es zwei bedeutende Stränge seines Lebens zusammen.
Es waren die damals noch in Muri anwesenden Benediktiner, die den Ministranten Urs Pilgrim für Gespräche über Gott, die Welt und das Kloster Muri begeistern konnten. Im Gymnasium in Engelberg erlebte Urs Pilgrim eine vom Zweiten Vatikanischen Konzil geprägte Offenheit im katholischen Geist und lernte, dass er durchaus ein «religiöser Rosinenpicker» sein darf. Will heissen: Jeder Mensch soll das für ihn Beste aus der Religion herausnehmen. «Ich pickte die Nächstenliebe heraus», so der 75-Jährige. Beruflich entschied er sich für das Medizinstudium, «weil es Freude auslöst, anderen zu helfen.»
«Es gibt keine Ungläubigen»
Bis 2012 führte er zusammen mit seiner Frau, der Ärztin Heidi Pilgrim, eine Praxis in Muri. «Ich habe viel gelernt von meinen Patientinnen und Patienten.» Vor allem bei länger andauernden gesundheitlichen Problemen nahm sich Urs Pilgrim jeweils Extrazeit, um mit den Betroffenen tiefe Gespräche zu führen. Dabei stellte er unter anderem fest: «Es gibt keine ungläubigen Menschen. Wir alle kommen irgendwann an die Grenze des Wissens, dann fangen wir an zu glauben.» Auf dieses Phänomen geht Urs Pilgrim in seinem Buch beispielsweise im Abschnitt «Der Placeboeffekt» ein. Dort heisst es: «Es gibt verschiedene Hinweise, dass religiöser Glaube die Schmerzwahrnehmung vermindern kann. In diesem Sinn darf Religion auch ‹Medizin› sein. Medizin darf aber nie Religion sein.»
Seit rund zwei Jahrzehnten amtet Urs Pilgrim auch als Murianer Klosterführer. Er sagt: «Seine Architektur und Ausgestaltung lässt uns Gott entdecken im Gegenüber.» Dies beispielsweise durch die zahlreichen Glasmalereien, Bilder und Skulpturen, die Geschichten aus jenen Epochen erzählen, als Religion und Medizin noch eng zusammen gehörten. Zugängliche Darstellungen sind die Nothelferinnen und Nothelfer. Anschaulich auch dies: «Im religiösen Schrifttum werden dem Himmel zahlreiche Eigenschaften zugeschrieben: Herrlich, prächtig, mächtig, strahlend und glückselig. Im Vergleich zu diesen glorifizierenden Adjektiven erscheint das ›feste Gewölbe›, das Gott am zweiten Schöpfungstag wie einen Schutzschirm über unsere Welt spannte, sehr nüchtern. Aber die Autoren der Genesis sprechen mit dem ‹festen Gewölbe› ein Urbedürfnis an, das seit Millionen von Jahren im Erbgut von Tieren und Menschen verankert ist: das Streben nach Sicherheit, Schutz und Geborgenheit. Psychologen und Psychiater weisen auf die Bedeutung von Sicherheit und Geborgenheit für die Ausbildung des Urvertrauens hin. Ohne dieses Urvertrauen ist eine gesunde Entwicklung nicht möglich, Krankheiten sind die Folgen.» Urs Pilgrim persönlich: «Die Kuppel der Klosterkirche Muri, abgestützt auf mächtigen Klostermauern, lässt mich dieses ‹festen Gewölbe› eindrücklich erleben. Hier fühle ich mich sicher und geborgen.»
Ein griffiger Buchtitel
Solcherlei Eindrücke zu Heilsszenen im engeren und weiteren Sinn hielt Urs Pilgrim auf losen Blättern fest. Sie flossen ein ins Werk, an dem er 2016 zu arbeiten begann. Prompt kam er damit im Theologischen Verlag Zürich unter. Widerstand gab es dort lediglich in Bezug auf seinen Buchtitel: «Schnittmengen zwischen Medizin und Religion im Kloster Muri.» «Der Titel muss griffiger sein», befand das Verlagsteam und schlug «Was hilft?» vor. «Ein genialer Titel», freute sich Urs Pilgrim. «Denn diese Frage stellte ich mir als Arzt täglich.»
Hilft beten? Weshalb werden wir gesund? Was kann die Religion der Medizin bieten? Was kann die Medizin der Religion bieten? Krankheit als Strafe für Sünde? Urs Pilgrim stellt sich in seinem Buch anspruchsvollen Fragen. Das hat nicht zuletzt mit seinem eigenen Leben zu tun. Eines der drei erwachsenen Kinder leidet an Schizophrenie. Seine Frau ist dementiell erkrankt und wird von ihm gepflegt. «Ich bin geläutert, glaube aber nach wie vor an einen Gott, der uns aus Liebe seinen Sohn geschenkt hat.»
Nächstenliebe fehlt im Glaubensbekenntnis
Und so schliesst denn Urs Pilgrims Buch mit: «Jesus von Nazaret, dem charismatischen Heiler und Verkünder des Gottesreichs, gelang vor 2000 Jahren auf eindrückliche Weise die Zusammenführung von Medizin und Religion. Er war ein frommer Jude, ihm ging es nicht um die Gründung einer neuen Religion. Sein Hauptanliegen war, den Menschen einen neuen Weg aufzuzeigen, wie sie einander begegnen wollen: Mit Wertschätzung, mit Respekt und mit Liebe… Deshalb soll unser christliches Wirken nach dem Vorbild Jesus heiltätig und heilbringend sein. Dafür ist kein Medizinstudium nötig, denn das christliche Heilmittel ist die Nächstenliebe.»
«Übrigens», schiebt der Autor nach: «Diese Zusage zur Nächsten- und Selbstliebe vermisse ich im apostolischen Glaubensbekenntnis. Dabei läge genau darin eine grosse Chance für unsere Kirche, mit der sie die junge Generation packen könnte.»