Das Aargauer Pfarrblatt feiert dieses Jahr seinen 30. Geburtstag. Grund genug, einmal die treuen Leserinnen und Leser von Horizonte in den Blick zu nehmen. Die Begeisterten genauso wie die Kritischen. Den Anfang macht Ernst Seiler aus Kirchdorf. Eigentlich wollte der 83-Jährige dem Pfarrblatt am Telefonnur eine spannende Geschichte stecken, lud dann aber auch noch gleich zum Raclette-Essen ein.«Ich hätte Ihnen da etwas; das wäre vielleicht etwas fürs Pfarrblatt», hatte Ernst Seiler am Telefon gemeint und sogleich begeistert zu erzählen begonnen. «Am besten, Sie kommen vorbei», hatte er nach etwa zehn Minuten gemeint. «Ich mache Ihnen und Ihrem Fotografen ein Raclette…» Ein paar Tag später lassen wir uns zu zweit in Kirchdorf bewirten. Ernst Seiler ist voll in seinem Element. Mit seinen heiteren Gesichtszügen und einem schelmenhaften Humor erinnert der 83-Jährige ein wenig an den pensionierten Zirkusseelsorger Ernst Heller. Die beiden teilen sich immerhin den Vornamen. Und beide sind sie alles andere als ernste Gesellen.
Zwischen Gewerkschaft und Kirche
Als langjähriger Sektions- und Kantonalpräsident der Katholischen Arbeiterbewegung KAB engagierte sich der ehemalige ABB-Angestellte Ernst Seiler inmitten einer nach dem zweiten Weltkrieg aufstrebenden Arbeiterschaft. Wohlgemerkt nicht sozialistisch, sondern christlich, wie Ernst Seiler betont. Die sozialistischen Gewerkschaften hätten in den 1950er Jahren ihre Versammlungen mit Absicht am Sonntag während der Gottesdienstzeiten abgehalten. «Das war für uns christliche Arbeiter natürlich ein Dilemma. Umso froher waren wir, als es bei uns endlich den christlichen Metallarbeiterverband gab», erinnert sich der Hobbyfotograf und passionierte Koch, der zudem Vielzahl an Gedichten aus dem Stehgreif rezitieren kann. «Kostprobe gefällig? Hier, wählen Sie eins aus.» Mit diesen Worten drückt Ernst Seiler uns eine aus zwei A4-Seiten bestehende Liste in die Hand. Wir nehmen Goethe und stauen nicht schlecht, als Ernst Seiler uns den Erlkönig «motorisiert» vorträgt. Der Vater mit Kind auf dem Sozius eines Motorrades, Pneumarke Firestone…
Pionier im sozialen Wohnungsbau
Stolz zeigt uns Ernst Seiler sein Haus: Vier Zimmer auf etwa achtzig Quadratmeter. Das ganze in Umschwung eingebettet, umrahmt von hochgewachsenen Tannen. «Die da habe ich seinerzeit noch im Velokörbchen hierher gebracht», so der pensionierte Warenkontrolleur, als er vom Fenster seines Ton- und Foto-Ateliers im Obergeschoss zu einem hochgewachsenen Baum zeigt. «Heute hat diese Tanne gut ihre 20 Meter». Ernst Seilers Haus ist ein besonderes und bald das letzte seiner Art am Kirchdorfer Hügel. Ursprünglich zehn kleine Arbeiterhäuser entstanden hier zu Beginn der 1950er Jahre. Angeregt hatte dieses Pionierprojekt im sozialen Wohnungsbau seinerzeit der Vikar Otto Brun. Der Eingebung folgend, dass auch ein Arbeiter sein eigenes Haus haben sollte, organisierte der Geistliche mit dem Segen des Pfarrers Versammlungen, wo er die Projektidee vorstellte. Das Angebot richtete sich an Männer aus der regionalen Arbeiterschaft, die bereit waren, selbst Hand anzulegen und sich auf praktische Arbeiten verstanden.
Auch ein Arbeiter sollte ein Haus besitzen
Ernst Seiler war damals 24 Jahre alt, fand Otto Bruns Idee grossartig. Bald gehörte er als Jüngster zu einer zehnköpfigen Gruppe Männer, die mit Hilfe des progressiven Vikars in Kirchdorf gemeinsam Land erwarben und dies untereinander aufteilten. Mit Hilfe einer Bürgschaftskasse konnte die Finanzierung geregelt werden. Für die anfallenden Bauarbeiten zogen hernach alle am gleichen Strick. «Zwei Jahre Bauzeit, für jeden etwa zwei Tausend Stunden Arbeit», erinnert sich Ernst Seiler. Von den Klärgruben über die Fundamente bis hin zu den Dachstühlen wurde alles in Eigenregie fertig gestellt. «Klar hatten wir Zimmerleute, Schreiner und einen Polier als Bauführer, die uns geholfen haben, sonst wäre das nicht gegangen. Denen haben wir auch einen Lohn gezahlt.» Schlüsselfertig kam das Haus auf für damalige Verhältnisse günstige 55 000 Franken. Für das Land, je 5,4 Aaren, bedurfte es zusätzlicher 2 000 Franken. Alles in allem ein attraktiver Preis bei einem Arbeiterjahreslohn von seinerzeit 4 000 Franken. In etwa vergleichbar mit der Möglichkeit, heutzutage mit einem Monatslohn von 5 000 Franken ein kleines, freistehendes Haus erwerben zu können. Kommt hinzu, dass die Inflation Ernst Seiler und seinen Baugenossen in die Hände spielte. Die aufgenommene Hypothek konnte bis in den folgenden Jahrzehnten spielend amortisiert werden.
Wegsterbende Zeitzeugen
Heute stehen noch drei der ursprünglich zehn Arbeiterhäuser am Hügel bei Kirchdorf. Ernst Seilers Baugenossen sind weggestorben, und mit ihnen verschwanden auch die Häuser, welche nach Verkäufen durch neue Wohnobjekte ersetzt wurden. Auf 80 Quadratmetern tummelt sich kaum noch gern eine Familie mit bis zu fünf Kindern, wie das seinerzeit die Generation von Ernst Seiler gewohnt war. Der 83-Jährige und seine Frau selbst blieben kinderlos, genossen daher in Sachen Wohnraum besonderen Luxus. Allerdings erkrankte Ernst Seilers Frau später schwer, starb vor 14 Jahren. «Ich habe mich frühpensionieren lassen, um meine Frau pflegen zu können.» Otto Brun, der Initiant des seinerzeit revolutionären Wohnbaugenossenschaftsprojekts, lebt hochbetagt im Stift in Beromünster. Ernst Seiler besucht ihn ab und zu. Tiefe Dankbarkeit für das eigene Zuhause während Jahrzehnten verbindet. Wohl kaum hätte Ernst Seiler für sich und seine Frau den Traum vom eigenen ohne den jungen Vikar erfüllen können.
Kirchen greifen sozialen Wohnungsbau wieder auf
Mittlerweile hat das Thema «Sozialer Wohnungsbau» in Anbetracht der um sich greifenden Wohnungsnot und der explodierenden Miet‑, Boden- und Immobilienpreise eine derartige Brisanz erreicht, dass immer mehr Kirchgemeinden und Landeskirchen das Thema auf die politische Agenda gesetzt haben. Nach Luzern hat nun auch die Römisch-Katholische Landeskirche im Kanton Aargau im Herbst 2014 ein Projekt lanciert. Unter dem Leitsatz «Faires Wohnen» sollen gemeinnützige und preisgünstige Wohnungen erreichtet werden können. Die Synode gewährte die Zeichnung von Genossenschaftsscheinen und gab Zustimmung zur Gewährung von Darlehen zwecks Gründung einer kirchlichen Wohnbaugenossenschaft. Ein erster Schritt, der dazu beitragen soll, dass sich auch künftig fünfköpfige Familien Wohnraum zu halbwegs vernünftigen Mietpreisen in zentrumsnaher Lage einer mittelgrossen Schweizer Stadt leisten können.
Der Zölibatär mit den platonischen Freundinnen
Wie viel Ernst Seiler sein eigenes Daheim noch heute bedeutet, erlebt, wer den junggebliebenen Rentner beim Kochen oder in der eigenen Werkstatt erlebt, im Garten oder im Ton- und Foto-Atelier im oberen Stock. Dort produziert der frühere ABB-Angestellte seine Tonbildschauen. Mit seinem Leben als Wittwer hat sich der 83-Jährige mittlerweile anfreunden können. «Ich lebe seit 14 Jahren zölibatär», meint Ernst Seiler mit einem Lächeln und scherzt: «Ich habe mittlerweile platonische Freundinnen. Das heisst platonisch, weil die platt sind, wenn die mich sehen.»Andreas C. Müller