«Bevor du nicht mit mir gebe­tet hast, gehe ich nicht»
Ein Rosenkranz und eine Madonna zieren die Füsse einer über 60-jährigen Sexarbeiterin.
Bild: ©Anne Burgmer

«Bevor du nicht mit mir gebe­tet hast, gehe ich nicht»

Spi­tal­seel­sor­ge, Alters­seel­sor­ge, Seel­sor­ge­an­ge­bo­te für Stu­die­ren­de an der Uni­ver­si­tät – davon haben Sie wahr­schein­lich schon mal gehört. Aber sagt Ihnen die Seel­sor­ge im Tabu­be­reich etwas?

Die Seel­sor­ge im Tabu­be­reich, kurz SiTa, ist ein Seel­sor­ge­an­ge­bot für Sex­ar­bei­te­rin­nen. Für die Frau­en ist es ein Ort, an dem sie Zuwen­dung und gemein­sa­mes Gebet erfah­ren, kon­kre­te Hil­fe ange­bo­ten bekom­men und über das spre­chen kön­nen, was ihnen im All­tag des Sex­ge­wer­bes passiert.

Ver­mehrt Opfer von Gewalt

Sex­ar­bei­te­rin­nen haben ein erhöh­tes Risi­ko, Opfer von Gewalt zu wer­den. Die Grün­de sind viel­fäl­tig. Die mei­sten Frau­en befin­den sich in pre­kä­ren Lebens­si­tua­tio­nen, eini­ge sind ille­gal im Land, ihnen feh­len Rech­te oder sie ken­nen ihre Rech­te und das Rechts­sy­stem des Lan­des, in dem sie arbei­ten, nicht, eini­ge spre­chen die Lan­des­spra­che kaum oder schlecht. Hal­ten sie sich ille­gal im Land auf, sehen sie sich oft gezwun­gen, sich zwi­schen einer Anzei­ge der Straf­ta­ten und dem Ver­lust ihrer Arbeit ent­schei­den zu müs­sen, denn Men­schen, die ihnen Gewalt antun, nut­zen die­se Situa­ti­on aus. «Sie den­ken, dass ich kei­ne Rech­te habe, weil ich Aus­län­de­rin bin, und dass sie mit mir machen kön­nen, was sie wol­len», berich­tet eine Sex­ar­bei­te­rin in der Schweiz.

Wel­che Art von Gewalt wird den Frau­en ange­tan? Eine explo­ra­ti­ve Stu­die hat die Gewalt­er­fah­run­gen von 24 Sex­ar­bei­te­rin­nen in der Schweiz unter­sucht. Über 70 Pro­zent von ihnen haben sexua­li­sier­te Gewalt erlebt. Die Hälf­te wur­de auf­grund ihrer Arbeit dis­kri­mi­niert und belei­digt. Auch Geld und Wert­ge­gen­stän­de wur­de der Hälf­te der Frau­en gestoh­len. Kör­per­li­che Gewalt wie Ohr­fei­gen und Faust­hie­be erle­ben sie genau­so wie das Fest­hal­ten gegen ihren Wil­len an einem Ort oder Belä­sti­gung online und im rea­len Leben, um nur eini­ge Bei­spie­le zu nen­nen. Die Stu­die fin­den Sie bei Inter­es­se hier.

Res­sour­ce zur Bewäl­ti­gung der Lebenssituation

Mit der SiTa bie­tet die katho­li­sche Kir­che in Basel den Sex­ar­bei­te­rin­nen eine Mög­lich­keit, sich in schwie­ri­gen Lebens­si­tua­tio­nen Hil­fe zu suchen.

Mit wel­chen The­men kom­men die Frau­en zur SiTa? «Das ist ganz viel­fäl­tig und unter­schied­lich», berich­tet Susan­ne Andrea Bir­ke, die SiTa-Seel­sor­ge­rin. «Die Frau­en, die zu mir in die Seel­sor­ge kom­men, leben pre­kär, das kann psy­chisch bela­sten. Sie haben oft kon­kre­te öko­no­mi­sche Sor­gen, wie die hohen Lebens­hal­tungs­ko­sten hier in der Schweiz, die Kosten für die Kran­ken­kas­se und so wei­ter.» Auch das The­ma Gesund­heit spielt immer wie­der eine Rol­le. In all die­sen Fäl­len arbei­tet die SiTa eng mit Ali­ena, einer Fach­stel­le für Frau­en im Sex­ge­wer­be, zusam­men und ver­weist auch auf deren Ange­bo­te, wenn die Frau­en mit ihrem Anlie­gen dort bes­ser auf­ge­ho­ben sind. «Ich lei­ste aber auch Not­hil­fe und gehe mit den Frau­en in die Apo­the­ke, um Medi­ka­men­te zu kau­fen», erzählt Birke.

Die Gesprä­che gehen aber über die kon­kre­te öko­no­mi­sche Situa­ti­on hin­aus. Die Frau­en spre­chen über ihre Sor­gen, Äng­ste, Träu­me, Ent­täu­schun­gen und über ihren Glau­ben. «Die Fami­lie ist oft The­ma», sagt Bir­ke. «Die mei­sten der Frau­en haben Kin­der, die in der Regel nicht bei ihnen leben. Die Bezie­hung zu den Kin­dern kommt oft auf. Sie erzäh­len, dass sie ihre Kin­der ver­mis­sen, dass die Kin­der sie ver­mis­sen und auch, dass sie von Schuld­ge­füh­len den Kin­dern gegen­über geplagt wer­den.» Die Eltern und die wei­te­re Fami­lie sind eben­falls ein Gesprächs­the­ma. Vie­le der Sex­ar­bei­te­rin­nen möch­ten nicht, dass ihre Ver­wand­ten wis­sen, wel­cher Arbeit sie nach­ge­hen, und suchen Hil­fe im Umgang mit die­ser schwie­ri­gen Situation.

Doch auch das expli­zit auf den Glau­ben bezo­ge­ne Ange­bot wird genutzt. «Vie­le der Frau­en haben einen star­ken Glau­ben. Ich mer­ke, dass es den Frau­en wich­tig ist, einen Ort für ihren Glau­ben zu haben.» Sie kom­men zur SiTa, um gemein­sam mit der Seel­sor­ge­rin zu beten. «Inzwi­schen mache ich das am Ende des Gesprächs regel­mäs­sig mit den Frau­en, die das wün­schen. Aber ich weiss noch, wie zu Beginn mei­ner Arbeit eine Frau bei mir war, die zu mir sag­te: ‹Bevor du nicht mit mir gebe­tet hast, gehe ich nicht›», erin­nert sich Bir­ke. Sie betet mit den Sex­ar­bei­te­rin­nen gemein­sam über das, was ihnen Sor­gen berei­tet. Vie­le Frau­en hät­ten eine sehr direk­te Spi­ri­tua­li­tät und bezö­gen Gott mit in das Gespräch ein. Bir­ke berich­tet, dass für die Frau­en das gemein­sa­me Gebet und Gespräch mit Gott Res­sour­cen sind, die ihnen hel­fen, die vie­len schwie­ri­gen Situa­tio­nen, die sie erle­ben, durch­zu­ste­hen und dass die SiTa für sie einen Ort dar­stellt, an dem sie sich auf­ge­ho­ben und getra­gen fühlen.

Inne­re Kon­flik­te zwi­schen Arbeit und Glaube

Man­che Frau­en suchen die SiTa auf, um über die inne­ren Kon­flik­te zwi­schen ihrer Arbeit und ihrem Glau­ben spre­chen. Ob von der Kir­che in ihrem Hei­mat­land, der Kir­che vor Ort oder im Reli­gi­ons­un­ter­richt, den sie als Schü­le­rin­nen besucht haben: Sie bekom­men ver­mit­telt, dass die Moral­vor­stel­lung der Kir­che und ihre Arbeit im Sex­ge­wer­be weit von­ein­an­der ent­fernt sind. Oft brin­gen die Frau­en ihre Gedan­ken zu die­sem The­ma mit in die SiTa. «Eini­ge haben da für sich einen eige­nen Weg gefun­den. Sie sagen: ‹Ich wür­de das nicht machen, wenn ich eine ande­re Opti­on hät­te, genug zu ver­die­nen, um mei­ne Kin­der oder Fami­lie zu unter­stüt­zen.› Ich sage den Frau­en, dass ich nicht glau­be, dass Gott sie für das, was sie tun, ver­ur­teilt. Das sage ich aus mei­ner per­sön­li­chen Über­zeu­gung her­aus», betont Bir­ke. «Ich signa­li­sie­re ihnen, dass ich ver­ste­he, dass sie das, was sie tun, für Men­schen tun, die sie lie­ben, und dass Gott das sieht und sie nicht dafür ver­ur­teilt. Da flies­sen dann auch Trä­nen», sagt Bir­ke. Es sei ein Rin­gen um den per­sön­li­chen Glau­ben, bei dem die SiTa den Frau­en zur Sei­te ste­he. «Was willst du, dass ich dir tue?», das ist die Fra­ge, an der die SiTa sich von einer christ­li­chen Per­spek­ti­ve her orientiert.

SiTa
Seel­sor­ge im Tabubereich

Die SiTa ist eine Fach­stel­le der Römisch-Katho­­li­­schen Lan­des­kir­chen Basel-Lan­d­­schaft und Basel-Stadt. Sie exi­stiert seit Janu­ar 2016. Sex­ar­bei­te­rin­nen fin­den hier einen geschütz­ten Raum, in dem sie seel­sor­ge­ri­sche Ange­bo­te wie Gesprä­che, das gemein­sa­me Gebet und Seg­nun­gen in Anspruch neh­men kön­nen. Die SiTa-Seel­­sor­­ge­rin Susan­ne Andrea Bir­ke nimmt an den Pasto­ral­raum­kon­fe­ren­zen von Basel-Lan­d­­schaft und Basel-Stadt teil und bringt die Anlie­gen der Seel­sor­ge im Tabu­be­reich in die kirch­li­chen Struk­tu­ren ein. Die Grund­la­ge der SiTa-Arbeit ist die vor­ur­teils­freie Hal­tung Jesu, der allen Men­schen offen begeg­ne­te. Wei­te­re Infor­ma­tio­nen fin­den Sie hier.

Leonie Wollensack
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