Beim Kaf­fee mit den alten Jungwächtern

Dass Kir­chen­ge­schich­ten geschrie­ben wer­den, ist eine Sel­ten­heit gewor­den. Dies vor allem auf­grund des hohen finan­zi­el­len Auf­wands. In Brugg wagt man den Schritt den­noch: Für 211’000 Fran­ken sol­len, gemäss der Kirch­ge­mein­de­ver­samm­lung vom 10. Juni 2014, die Histo­ri­ker Astrid Bal­din­ger, Max Bau­mann und Titus Mei­er die Ver­gan­gen­heit der Dia­spo­ra-Kirch­ge­mein­de auf­ar­bei­ten. Kon­kret heisst das: Archi­ve durch­stö­bern und Zeit­zeu­gen befra­gen. Hori­zon­te hat Astrid Bal­din­ger bei einem Inter­view mit ehe­ma­li­gen Jung­wäch­tern über die Schul­ter geschaut und selbst Fra­gen gestellt. In Habs­burg tra­fen sich die ehe­ma­li­gen Jung­wäch­ter Wil­helm Knecht, Paul Lang und das Brug­ger Urge­stein Wer­ner Müller. Wel­che Rol­le spiel­te die Jung­wacht damals, in den 1950er Jah­ren? Wer­ner Mül­ler (Jahr­gang 1933): In den 1950er Jah­ren war das schon noch etwas Ande­res als heu­te. Die Jung­wacht war etwas ver­hält­nis­mäs­sig Neu­es bei uns in der Regi­on, und man hat­te zunächst noch kei­ne eige­nen Jugend­räu­me. Über­haupt: Brugg, das war Dia­spo­ra, es gab kaum Katho­li­ken hier, an vie­len Orten noch kei­ne Got­tes­dien­ste. Die Fre­quenz im öffent­li­chen Ver­kehr ermög­lich­te es den Buben nicht, zu Jung­wacht-Treffs nach Brugg zu fah­ren. In etli­chen aus­wär­ti­gen Gemein­den orga­ni­sier­ten sie sich dem­zu­fol­ge selbst und tra­fen sich  sozu­sa­gen zu Hau­se, zu «Vor-Ort-Jung­wacht-Grup­pen­stun­den».Das klingt sehr impro­vi­siert. Paul Lang (Jahr­gang 1945): Schon, und doch war alles straff orga­ni­siert und immer per­fekt. Alle gaben ihr Bestes. Ich mag mich noch gut erin­nern: 1961 wur­de ich Grup­pen­füh­rer und Wer­ner Mül­ler war Lei­ter. Die Jungs, zu denen ich auch gehör­te, hat­ten mit ihm in einem Kel­ler­ab­teil den ersten Grup­pen­raum ein­ge­rich­tet. Für den Boden waren eigens Par­kett­lei­sten gekauft wor­den… Wer­ner Mül­ler: Die hat­ten wir aus dem Abbruch… Paul Lang: Die­ser Boden war per­fekt abge­schlif­fen, das glänz­te rich­tig. Als Buben haben wir da die Schu­he aus­ge­zo­gen… So etwas hat uns schon beein­druckt, das gab es so sonst nicht in der Regi­on.Trug denn die Jung­wacht auch zur Ver­net­zung der Katho­li­ken in der Regi­on bei? Paul Lang: Auf jeden Fall. Und sie schaff­te Gemein­schaft, stif­te­te Iden­ti­tät und war über die sinn­vol­le Frei­zeit­be­schäf­ti­gung hin­aus ein wich­ti­ger grup­pen­dy­na­mi­scher Pro­zess in die­sem Alter. Wil­helm Knecht (Jahr­gang 1938): Du hast dich dann ja auch ent­spre­chend ins Zeug gelegt und wur­dest – wie Wer­ner Mül­ler – spä­ter  auch Schar- und Kreis­lei­ter. Paul Lang: Da habe ich fast haupt­amt­lich für die Jung­wacht gear­bei­tet. Ich war jeden Abend irgend­wo am Pla­nen und Orga­ni­sie­ren. Und am Wochen­en­de war dann sowie­so etwas los.Wie wur­de man damals in die Jung­wacht auf­ge­nom­men? Wer­ner Mül­ler: Ich bin 1944 auf­ge­nom­men wor­den und habe ein Jahr spä­ter mein erstes Lager erlebt. Auch mei­ne drei Brü­der waren in der Jung­wacht. Vor der Auf­nah­me waren wir erst ein Jahr lang Kan­di­da­ten auf Pro­be. Dann, nach der Erst­kom­mu­ni­on, konn­ten wir das Treue-Ver­spre­chen able­gen und wur­den aufgenommen.Und die Füh­rung? Paul Lang: Frü­her muss­ten die Anwär­ter auf einen Lei­ter­po­sten einen Kurs besu­chen und Prü­fun­gen able­gen. Die­se Aus­bil­dungs­kur­se wur­den sehr pro­fes­sio­nell orga­ni­siert, man hat­te ja her­nach auch Ver­ant­wor­tung. Grup­pen­lei­ter war man für etwa zehn Buben, eine Schar umfass­te dann 100 Leute.Herr Knecht, war­um tref­fen wir uns gera­de bei Ihnen zu Hau­se in Habs­burg? Wil­helm Knecht (Jahr­gang 1938): Das hat eine beson­de­re Bewandt­nis und einen kon­kre­ten Bezug zur Jung­wacht von damals. Genau hier habe ich 1969 für 600 Buben ein Lager mit­or­ga­ni­siert. Im Scherz habe ich her­nach gegen­über dem Gemein­de­am­mann gemeint, das sei ein guter Platz, da könn­te man doch auch woh­nen. Ein paar Jah­re spä­ter erhielt ich einen Anruf aus Habs­burg. Es hiess, angren­zend zu unse­rem vor­ma­li­gen Jung­wacht-Zelt­ge­län­de stün­de nun Bau­land zum Verkauf.Die haben sich an Sie erin­nert und Sie qua­si als Zuzü­ger ein­ge­la­den? Wil­helm Knecht: Ja, in der Tat. Aber viel­leicht nicht ganz unei­gen­nüt­zig. Ich soll­te dem Gemein­de­rat bei­tre­ten und mei­ne Frau folg­te dem Wunsch vom dama­li­gen Pfar­rer Eugen Vogel, hier in Habs­burg den katho­li­schen Reli­gi­ons­un­ter­richt zu ertei­len. So lief das halt. Damals gab es hier in der Regi­on noch weni­ge Katho­li­ken, das hier war Dia­spo­ra. Wer­ner Mül­ler: Bis anfangs der 50er Jah­re gab es ja auch kein Fern­se­hen und auch nicht all die­se Frei­zeit-Ange­bo­te wie heu­te. Auch Feri­en konn­ten sich die Men­schen nach dem Krieg kaum lei­sten. Das, was wir in der Jung­wacht ange­bo­ten haben, war ein ech­tes Bedürf­nis. So konn­ten wir die Jun­gen gut packen…Es scheint, als hät­te man von Ihnen als Jung­wacht­lei­ter einen guten Ein­druck bekom­men. Wil­helm Knecht: In der Jung­wacht haben wir viel fürs Leben gelernt. Vie­le Jung­wäch­ter haben her­nach vie­ler­orts, auch im Mili­tär und in der Wirt­schaft Kar­rie­re gemacht. Paul Lang: Einer von uns wur­de Prä­si­dent des Aar­gaui­schen Ober­ge­richts, einer  wur­de Schwei­zer Bot­schaf­ter, einer Chef der Berufs­be­ra­tung des Kan­tons Zürich, zwei wur­den Divi­sio­nä­re. Jetzt tref­fen wir uns noch jedes Jahr im «KdE», im Kreis der Ehe­ma­li­gen. Wer­ner Mül­ler: Und wir hat­ten in der Jung­wacht immer den Plausch… Ich weiss noch, damals, Mit­te der Fünf­zi­ger-Jah­re… Ich hat­te als Lei­ter vor der Abrei­se ins Feri­en­la­ger Appell gemacht und her­nach im Zug, da zähl­te ich nach.… Ein­mal, zwei­mal… Immer war da einer zu viel. Aus einer armen Fami­lie war jemand ein­fach mit­ge­kom­men. Er hät­te unse­ren Pfar­rer gefragt, und die­ser hät­te gesagt, er sol­le nur mit­kom­men, so der Bub. Und dann? Wer­ner Mül­ler: Ja, den haben wir dann mit­ge­nom­men… Und den «Kon­di» haben wir auch noch «pschis­se» (lacht). Ich hat­te ja nur ein Bil­let für die ange­mel­de­ten Kin­der. Aber Sie kön­nen sich ja vor­stel­len, dass ein Kon­duk­teur kaum eine Grup­pe von über 100 Kin­dern durch­zäh­len kann… Nun, wir haben dem Bub dann nicht nur das Bahn­bil­let son­dern auch den gan­zen Feri­en­auf­ent­halt bezahlt.Andre­as C. Müller                                                                                                                                                                                              
Redaktion Lichtblick
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