Auf den Spuren einer Lichtgestalt
2500 Kilometer unterwegs zu Maria
Lourdes als Kraftort für Mädchen und Frauen: Die feministische Wallfahrt von Monika Hungerbühler zum grössten Marienwallfahrtsort in Europa machts möglich.
Ohne die Bücher auf den zwei leeren Sitzen im Car, die vielen Gespräche mit meinen Mitreisenden und die Anregungen und Erklärungen der Theologin und Reiseleiterin Monika Hungerbühler wäre die Fahrt nach Lourdes ein Städtetripp geworden, keine Wallfahrt. Wallfahrerinnen und Wallfahrer verlassen für eine gewisse Zeit ihren Alltag. Viele tun dies in der Hoffnung, verwandelt nach Hause zu kommen. Wenn nicht verwandelt, so doch wenigstens gereinigt, sinnerfüllt oder mit einer neuen Erkenntnis im Gepäck. Ich für meinen Teil habe nach zweieinhalbtausend Kilometern im Reisecar einen anderen Blick auf Maria.
Der Star von Lourdes
Maria ist der Star von Lourdes. Zahlreiche Läden verkaufen ihre Merchandise-Artikel. Maria gibt es als Plastikflasche, als Kartonfigur, als Weihwasserbehältnis. Zum Umhängen, Aufstellen und Mittragen. Dargestellt wird sie als weissgekleidete Frau mit Schleier, hellblauem Gurt und betenden Händen. Ihr Blick geht ins Weite. Das Vorbild für diese Darstellung ist die Statue aus dem 19. Jahrhundert, die in der Nische oberhalb der Grotte in Lourdes steht, wo Bernadette Soubirous ihre Visionen einer «schönen Dame» hatte und auf deren Geheiss sie eine Quelle zum Fliessen gebracht haben soll. Die Darstellung zeigt Maria als jungfräuliche Magd, als die Unbefleckte Empfängnis, wie sie vier Jahre vor den Visionen von Bernadette Soubirous von Papst Pius IX. dogmatisiert worden war. Das Marienbild aus dem 19. Jahrhundert ist keusch, demütig und fromm und spiegelt die ideale Frau der damaligen Zeit.
Lichterprozession
Der Höhepunkt eines jeden Lourdestages ist die Lichterprozession um 21 Uhr. Hunderte Menschen versammeln sich dazu neben dem Platz vor der Grotte. Viele Freiwillige sind nötig, um die Menschen an die richtigen Stellen zu dirigieren. Die Prozession wird von einer leuchtenden Mariafigur hinter Glas angeführt. Der Statue auf der Sänfte, die von vier Männern getragen und von vier Ordensfrauen mit Stablaternen flankiert wird, folgen Priester, Ordensleute und Pilgergruppen. Hinter ihnen reihen sich Hunderte Menschen ein. Alle halten eine Kerze in der Hand, singen die ihnen vertrauten Melodien mit dem Text in ihrer Sprache. Ein polyglotter Gesang begleitet die Prozession auf dem Bernadette-Weg, der in einer Schlaufe auf den Platz vor die Hauptbasilika führt. Alle singen den Refrain «Ave Maria» und halten dann, wie auf ein unsichtbares Zeichen, ihre Kerzen in die Luft. In einer Serpentine nähert sich die Prozession der gewaltigen Kathedrale. Am Ende der Veranstaltung öffnet sich das Portal der Basilika, die leuchtende Maria verschwindet und an ihrer Stelle erscheint eine riesige Projektion einer Marienfigur am Turm der Kathedrale. Perfekt inszeniert und unnahbar.
Ort der Bedürftigen
Gleichzeitig ist Lourdes ein zutiefst intimer Ort. Hier zeigen sich Menschen mit ihren Krankheiten, Missbildungen und Schmerzen. Sie schämen sich nicht, dass sie ihre Hoffnung an ein unwahrscheinliches Wunder heften. Sie lassen sich in Rollstühlen zu Messen schieben, in kleinen Kutschen zur Grotte ziehen, in Betten zum Rosenkranzgebet stossen. Geduldig sitzen sie auf Bänken vor den Bädern, um sich mit dem Wasser der Quelle zu waschen und es zu trinken. Sie stehen Schlange, um die Quelle hinter Glas in der Grotte zu sehen und den Felsen zu berühren, über den dünne Rinnsale laufen. Sie streichen sich das Wasser ins Gesicht und benetzen ihre mitgebrachten Habseligkeiten: Rosenkränze, Briefe, Mariafiguren. Lourdes ist ein Ort, an dem Menschen bedürftig sein dürfen. Die Bedürftigsten stehen hier im Zentrum und bekommen die besten Plätze.
Rund sechs Millionen Menschen kommen jährlich nach Lourdes, zum grössten Marienwallfahrtort in Europa. Wallfahrtsorte stehen meist im Zusammenhang mit Heilungswundern. Die Hoffnung der Wallfahrenden nach Heilung ist begründet. Immerhin sind in Lourdes 70 Heilungswunder von der katholischen Kirche offiziell anerkannt. Tausende mehr sollen sich ereignet haben.
Maria und ihre Vorbilder
Die Marienfrömmigkeit hat eine lange Tradition mit einem ersten Höhepunkt im Hochmittelalter, aus dieser Zeit stammt die Wallfahrt nach Rocamadour in der französischen Region Okzitanien. Auf der Fahrt nach Lourdes machte unsere Reisegruppe einen Zwischenhalt in der mittelalterlichen Stadt, die sich an den steilen Felsen oberhalb des ausgetrockneten Flusslaufs des Alzou schmiegt. Über zahlreiche Stufen gelangt man zu sieben Kapellen. In der Marienkapelle Notre Dame de Rocamadour thront eine schwarze Madonna aus Holz aus dem 12. Jahrhundert. Sie ist dem Typus nach eine «Sedes sapientiae» – ein Sitz der Weisheit. Jesus, meist nicht als Kind dargestellt, sitzt als Verkörperung der Weisheit auf dem Schoss seiner Mutter Maria, die aufrecht mit starrem Blick dasitzt. Der Ursprung ihrer schwarzen Farbe ist nicht hinreichend geklärt. Gemäss den Ausführungen von Monika Hungerbühler könnte eine Traditionslinie von den schwarzen Göttinnen der Antike zu Maria eine mögliche Erklärung für ihre Hautfarbe sein. Kybele, Astarte, Isis und Ischtar – Göttinnen aus dem Raum Anatolien, Ägypten und Mesopotamien – wären dann Marias Vorbilder gewesen. Somit stünde der Marienkult in einer jahrtausendealten Tradition der Kulte rund um Fruchtbarkeits‑, Mutter- und Erdgöttinnen. Diese Interpretation trage dem Bedürfnis Rechnung, der Weiblichkeit Gottes ihren Platz zuzugestehen, erklärt Monika Hungerbühler.
Die Geschichte von
Bernadette Soubirous
Bernadette Soubirous wurde am 7. Januar 1844 in Lourdes geboren. Ihr Vater war ein wohlhabender Müller, verlor aber im Zuge der Industrialisierung seine Arbeit, und die Familie verarmte. 1854 musste die Familie mit ihren vier Kindern die Mühle verlassen und wohnte schliesslich in einem einzigen dunklen und feuchten Zimmer zur Miete. Bernadette litt an Asthma und anderen gesundheitlichen Problemen. Bei den Schwestern der Nächstenliebe, in deren Orden sie später eintrat, besuchte sie sporadisch die Schule für arme Mädchen. Am 11. Februar 1858 sammelte Bernadette mit ihrer Schwester und deren Freundin Brennholz. Während die zwei anderen den Fluss Gave überquerten, blieb Bernadette zurück und hörte einen Windstoss in den Pappeln, ohne dass sich jedoch die Blätter bewegten. In einer Felsnische erblickte Bernadette eine weiss gekleidete Dame, wie sie später zu Protokoll gab. Das Mädchen ging täglich zurück zur Grotte und traf die Dame immer wieder an. Zwischen Februar und Juli 1858 soll ihr die Dame 18-mal erschienen sein. Meist hätten sie nicht gesprochen, berichtete Bernadette. Bei der 16. Erscheinung nannte die Dame ihren Namen: «Ich bin die Unbefleckte Empfängnis.» Dies, weil Bernadette vom Ortspfarrer gedrängt worden war, ihren Namen zu erfragen. Die Dame forderte Bernadette auf, in der Grotte unter der Felsnische mit den Händen zu graben, worauf das Mädchen eine Quelle freilegte. Ausserdem wurde sie beauftragt, dem Pfarrer auszurichten, dass eine Kapelle gebaut und Prozessionen zur Quelle gemacht werden sollen. Die Erscheinungen zogen viele Leute an. Bald kursierten Geschichten von Heilungen, und die Kirche übernahm die Kontrolle des Ortes. Später besuchte Bernadette während acht Jahren die Internatsschule im Hospiz der Schwestern der Nächstenliebe von Nevers, wohin sie 1866 zog. Sie trat der Gemeinschaft bei, wo sie zur Krankenschwester ausgebildet wurde. Allerdings verhindert ihre schlechte Gesundheit, dass sie sich um die Kranken kümmern konnte. Ihr gesundheitlicher Zustand verschlechterte sich zunehmend, bis sie 1879 mit nur 35 Jahren starb. eme
Frauenbilder
Auf unserer Reise sind uns in Autun, Bourges und Limoges weitere Marien begegnet. Alle verkörpern immer auch ein Frauenbild ihrer Zeit. Und die Frauen der verschiedenen Zeitalter haben sich am Bild der Maria gemessen oder messen lassen müssen. Maria hatte viele Gesichter im Laufe der Zeit und keines wird ihr wohl gerecht. Weder die Projektion auf dem Kirchturm der Basilika in Lourdes noch die Figur der hölzernen Gebieterin aus Rocamadour. Fest steht aber, dass sich die Menschen über die Zeit an ihr als Trösterin und Fürsprecherin festgehalten haben.
Visionen an der Schwelle zum Frausein
Auch Bernadette von Soubirous hat durch die Visionen der Maria Trost erlebt. Das vierzehnjährige Mädchen, arm, ungebildet und krank, konnte nichts von seiner Zukunft erwarten. Die Begegnung mit der «schönen Dame», wie sie sie genannt hat, hat ihrer Existenz plötzlich Bedeutung verliehen. Monika Hungerbühler sieht in den Visionen der Bernadette Soubirous – gestützt auf die Erkenntnisse der Jungschen Psychoanalytikerin Ursula Bernauer – die Initiationsgeschichte einer heranwachsenden Frau. Dadurch wird für Monika Hungerbühler Lourdes auch zu einem Kraftort für Mädchen und Frauen und verleitet sie zu einer eigenen Vision des Marienwallfahrtsortes: «Jedes Mädchen an der Schwelle zum Frausein erhält von seiner Pfarrei als Geschenk eine Lourdesreise. Nun ist es ungefähr so alt wie Bernadette. In ihm hat etwas zu fliessen begonnen. Die Abendprozessionen werden von Mädchen aus aller Welt angeführt. Direkt dahinter kommen die Kranken. Die Gottesdienste sind bevölkert von Mädchen in weissen Gewändern, zusammengehalten von einem blauen Gürtel, und mit hellen Stoffschuhen an den Füssen, in die eine gelbe Rose eingestickt ist. Sie tragen braune Wasserschalen und beleben die Altarinsel. Selbstverständlich steht dem Gottesdienst auch mal eine Frau oder eine queere Person vor.»