Angst, den gesell­schaft­li­chen Regeln nicht gewach­sen zu sein

Angst, den gesell­schaft­li­chen Regeln nicht gewach­sen zu sein

Es war der viel­leicht gröss­te Anlass, an dem Flücht­lin­ge direkt und in ihrer je eige­nen Spra­che zu ihren Inte­gra­ti­ons­er­fah­run­gen im Aar­gau befragt wur­den und sich äus­sern konn­ten. Die Ergeb­nis­se der Ein­zel­fra­ge­bö­gen und die Aus­wer­tun­gen der Grup­pen­ge­sprä­che offen­ba­ren nun, wo Hand­lungs­be­darf besteht: Beim Kon­takt zur ein­hei­mi­schen Bevöl­ke­rung und der Betei­li­gung von Flücht­lin­gen an Projekten.Als es Anfang Okto­ber 2016 von Sei­ten Cari­tas Aar­gau hiess, «eine von uns beauf­trag­te Pro­jekt­grup­pe mit Flücht­lin­gen aus Syri­en und Eri­trea, Afgha­ni­stan und Tibet hat in den letz­ten Wochen mehr­mals die Köp­fe zusam­men­ge­steckt, und ent­stan­den ist nun ein Flücht­lings­event mit dem Namen «exex – exch­an­ge expe­ri­ence» («exex»)», lagen 50 Anmel­dun­gen für den Event vor. Schluss­end­lich kamen aus allen Regio­nen des Aar­gau ins­ge­samt 250 Flücht­lin­ge mit B- und F‑Bewilligung am 5. Novem­ber 2016 zu dem Work­shop in der Schach­en­hal­le in Aar­au (Hori­zon­te berich­te­te).Dort konn­ten die Flücht­lin­ge in ver­schie­de­nen Sprach­grup­pen dar­le­gen, wel­che Erfah­run­gen sie im Zusam­men­hang mit Inte­gra­ti­on bei uns gemacht haben. Sie konn­ten zudem erzäh­len, was sie sich in Bezug auf Inte­gra­ti­on und Par­ti­zi­pa­ti­on wün­schen. Gleich­zei­tig bestand die Mög­lich­keit, Fra­ge­bö­gen zu ver­schie­de­nen Aspek­ten des The­mas aus­zu­fül­len.

Fra­ge­bö­gen und Grup­pen­ge­sprä­che ausgewertet

Nach rund drei Mona­ten lie­gen Hori­zon­te als erstem Medi­um nun die Ergeb­nis­se aus 21 gelei­te­ten und the­men­zen­trier­ten Grup­pen­ge­sprä­chen sowie die Aus­wer­tung von 220 aus­ge­füll­ten Fra­ge­bö­gen vor. Die Fra­ge­bö­gen, so heisst es in der Medi­en­mit­tei­lung der Cari­tas Aar­gau, «dien­ten [als quan­ti­ta­ti­ves For­schungs­in­stru­ment] einer­seits der Beschrei­bung der Stich­pro­be (wer sind die Befrag­ten; sie­he ganz unten) und ande­rer­seits der Erhe­bung der Grund­vor­aus­set­zun­gen der Par­ti­zi­pa­ti­on (was wird benö­tigt, damit Par­ti­zi­pa­ti­on mög­lich ist)». Durch­ge­führt wur­den die Befra­gun­gen und Aus­wer­tun­gen durch Oli­via Con­rad und Joël­le Senn, Stu­den­tin­nen der Fach­hoch­schu­le Nord­west­schweiz, im Rah­men einer Pro­jekt­ar­beit.

Vie­le füh­len sich nicht gleichberechtigt

Die Befra­gun­gen erga­ben, dass die Migran­tin­nen und Migran­ten grund­sätz­lich sehr moti­viert sind. Den Spit­zen­platz nimmt die Moti­va­ti­on ein, Deutsch zu erler­nen (etwas über 94 Pro­zent). Die Ergeb­nis­se im Bereich «Aner­ken­nung» sind unter­schied­lich. Zwar fühlt sich mit knapp 75 Pro­zent der gros­se Teil der Flücht­lin­ge hier respek­tiert, doch bei der Fra­ge nach der fai­ren Behand­lung sinkt die Zustim­mung auf etwas über 68 Pro­zent und ledig­lich etwas über 50 Pro­zent der Befrag­ten füh­len sich in der Schweiz gleich­be­rech­tigt. Auch bei den «mate­ri­el­len und sozia­len Rah­men­be­din­gun­gen» füh­len sich die Flücht­lin­ge zurück­ge­stellt.Im Bereich «Gleich­heit und Dif­fe­renz» sticht die 97 pro­zen­ti­ge Zustim­mung zur Aus­sa­ge, dass der Kon­takt mit Schwei­zern wich­tig sei, her­aus. «Uns hat über­rascht, dass der Kon­takt zur ein­hei­mi­schen Bevöl­ke­rung so stark gewich­tet und betont wur­de. Somit ist dies nicht nur aus unse­rer Sicht wich­tig, son­dern eben auch aus der Sicht der Flücht­lin­ge», erklärt Beat John von Cari­tas Aar­gau und Pro­jekt­lei­ter von «exex».

Anlass war Flücht­lin­gen sehr wichtig

Eben­falls uner­war­tet war, so Beat John, «wie wich­tig der Anlass den Flücht­lin­gen war. Das haben wir nicht erwar­tet». Beat John erzählt, wie enga­giert das Pro­jekt­team, bestehend aus Flücht­lin­gen aus Syri­en, Eri­trea, Afgha­ni­stan und Tibet sich für den Anlass ein­ge­setz­te hat. «Die Flücht­lin­ge im Pro­jekt­team haben von uns nach dem Abschluss eine Bestä­ti­gung über ihr Enga­ge­ment erhal­ten. Wie ein klei­nes Zeug­nis. Und es war ein­drück­lich, zu erle­ben, wie wich­tig ihnen die­se Schwei­zer Bestä­ti­gung ist. Sie wol­len Aner­ken­nung und dafür wol­len sie sich ein­brin­gen in die Gesell­schaft.»

Kon­takt zu Schwei­zern und Arbeit drin­gend erwünscht

Der Kon­takt der Flücht­lin­ge unter­ein­an­der ist gut, wie die Befra­gung ergab. Aller­dings wün­schen sich die mei­sten bes­se­ren und mehr Kon­takt zur ein­hei­mi­schen Bevöl­ke­rung. Die Mehr­heit der Flücht­lin­ge hat in der Schweiz end­lich kei­ne Angst mehr um Leib und Leben, lernt dafür aller­dings die Angst ken­nen, den gesell­schaft­li­chen Regeln nicht gewach­sen zu sein. Das Erler­nen der Spra­che wird als zwin­gend not­wen­dig ver­stan­den, doch das Ange­bot an Kur­sen wird dem nicht gerecht. Im Bereich Arbeit wer­den der Wunsch zu arbei­ten und die Wich­tig­keit von Arbeit klar benannt, gleich­zei­tig von unüber­wind­ba­ren Hür­den auf dem Weg zu einer Arbeits­stel­le gespro­chen. Das The­ma Woh­nen und Mobi­li­tät balan­ciert zwi­schen dem Wunsch nach eige­nem Wohn­raum und der Sor­ge, undank­bar zu erschei­nen, wenn man nicht das erste Ange­bot anneh­me.

Flücht­lin­ge wol­len wis­sen, was man von ihnen erwartet

Eine Befra­gung der Flücht­lin­ge in der Grös­sen­ord­nung, wie Cari­tas Aar­gau sie durch­führ­te, und die the­men­zen­trier­ten Gesprä­che in Sprach­grup­pen sind inso­fern hilf­reich, als dass bestimm­te The­men neu ins Bewusst­sein gera­ten. Ob etwas hilf­reich ist oder nicht, kann letzt­lich nur der­je­ni­ge sagen, der die Hil­fe benö­tigt. Da tref­fen sich Ein­hei­mi­sche und Zuwan­de­rer – denn wer hat nicht schon ein­mal ange­sichts von Büro­kra­tie und amt­li­chen Bro­schü­ren den Kopf geschüt­telt und bei sich gedacht: Das ist zwar gut gemeint, doch nicht gut gemacht.Ähn­lich ist es mit der Über­le­gung, ob ein Ange­bot wirk­lich nie­der­schwel­lig ist oder nicht. «Ein Anlie­gen der Flücht­lin­ge ist zum Bei­spiel eine bes­se­re Infor­ma­ti­on über die ver­schie­de­nen Anfor­de­run­gen an Flücht­lin­ge im Aar­gau», erklärt Beat John. Es zeig­te sich, so Beat John, dass bestimm­te Infor­ma­ti­ons­an­ge­bo­te, die aus der Sicht der Hilfs­wer­ke, Ver­ei­ne oder des Kan­tons gut und nie­der­schwel­lig sind, aus Sicht der Flücht­lin­ge schon eine Über­for­de­rung dar­stell­ten.

Dank­bar­keit beein­fluss­te mög­li­cher­wei­se die Resultate

Eng ver­bun­den mit dem The­ma Inte­gra­ti­on ist das The­ma der Par­ti­zi­pa­ti­on – also die Teil­ha­be an der Gesell­schaft, in der man lebt. «Gesell­schaft­li­che Par­ti­zi­pa­ti­on setzt aber auch Moti­va­ti­on, mate­ri­el­le und sozia­le Rah­men­be­din­gun­gen, Aner­ken­nung, Gleich­heit und Dif­fe­renz sowie Kon­flikt­fä­hig­keit vor­aus. Die­se Aspek­te wur­den im quan­ti­ta­ti­ven Fra­ge­bo­gen erfasst», heisst es in der Aus­wer­tung.Zu beden­ken sei aller­dings, dass die Befra­gung aus zwei Grün­den nur beschränk­ten Aus­sa­ge­wert hät­te, wie die Ver­ant­wort­li­chen von Cari­tas Aar­gau erklä­ren. Einer­seits sei der Fra­ge­bo­gen trotz Über­set­zung anspruchs­voll gewe­sen. Ande­rer­seits müs­se man «von einem posi­ti­ven Framing aus­ge­hen». Das heisst, dass die Flücht­lin­ge aus Dank­bar­keit gegen­über den Orga­ni­sa­to­ren, gegen­über dem Kan­ton und der Schweiz, die Fra­gen mög­li­cher­wei­se posi­ti­ver beant­wor­tet hät­ten, um nicht undank­bar zu erschei­nen.Beat John bestä­tigt: «Ich war tief berührt von der Dank­bar­keit der Flücht­lin­ge. Es war für sie etwas ganz Spe­zi­el­les, dass Cari­tas für sie so einen Event mit Fest orga­ni­siert hat. Und die­se Dank­bar­keit schlägt sich auch in den Ant­wor­ten nie­der. Die­sen Aspekt darf man nicht aus­ser Acht las­sen.»

Fazit: Flücht­lin­ge sol­len sich auch gegen­sei­tig unterstützen

«Die Resul­ta­te», so Beat John, «sind der Input für unse­re Wei­ter­ar­beit. Einer­seits geht es da um Pro­jek­te, die wir anpacken wol­len. Ande­rer­seits geht es aber auch um die Hal­tun­gen für bestehen­de Pro­jek­te und Enga­ge­ments. Wir haben gespürt, wie ger­ne Flücht­lin­ge mit­ma­chen möch­ten. Dies müs­sen wir ver­mehrt in unse­rer Arbeit berück­sich­ti­gen und ermög­li­chen».Empower­ment heisst das Stich­wort – Ermäch­ti­gung. Das heisst, dass die Fähig­kei­ten der Flücht­lin­ge, sich gegen­sei­tig zu unter­stüt­zen, um ein selbst­be­stimm­te­res Leben zu füh­ren, bestärkt wer­den. Man sei noch in der Pha­se der Kon­zep­tio­nie­rung, so Beat John, doch im Bereich Beglei­tung und Aus­tausch von Flücht­lin­gen durch Flücht­lin­ge, die schon län­ger hier leb­ten und ihr Wis­sen wei­ter­ver­mit­teln könn­ten, wol­le man ver­stärkt tätig wer­den.Neben der kon­kre­ten Arbeit an Pro­jek­ten, wol­le man die Form von Aus­tausch, die «exex» dar­stellt, unbe­dingt wei­ter­füh­ren: «Ich darf ein Wei­ter­ent­wick­lungs­kon­zept dazu schrei­ben. Die­se Platt­form des Aus­tau­sches hat Ener­gie und Kraft und die Bereit­schaft der Flücht­lin­ge ist gross, mit­zu­ma­chen und teil­zu­neh­men», erklärt Beat John. 

Hin­ter­grund­in­for­ma­ti­on — Wer wur­de befragt?

Gut zwei Drit­tel der Befrag­ten aus ins­ge­samt elf Natio­nen leben seit drei Jah­ren oder län­ger in der Schweiz. 60 Pro­zent der Befrag­ten haben den Auf­ent­halts­sta­tus B, 25 Pro­zent den Sta­tus F. Es füll­ten bei­na­he gleich­viel Frau­en wie Män­ner den Fra­ge­bo­gen aus. Auch wenn alle Alters­ka­te­go­rien anwe­send waren, waren im Ver­hält­nis vor allem 20 bis 40-jäh­ri­ge Frau­en und Män­ner anwe­send.  Über 60 Pro­zent der Befrag­ten haben Kin­der (die 150 anwe­sen­den Kin­der wären die stärk­ste Alters­grup­pe gewe­sen; die Kin­der wur­den aller­dings nicht über Fra­ge­bo­gen erfasst).Von 189 Befrag­ten, die die Fra­ge beant­wor­tet haben, haben 134 im Hei­mat­land einen Abschluss (Schul­ab­schluss: 58, Berufs­ab­schluss: 22, Hochschulabschluss/Studium: 42, ande­re: 12). Nur 55 die­ser 189 haben kei­nen Abschluss. Das sind knapp 30 Pro­zent. Dem­ge­gen­über haben von 174 Befrag­ten, die die Fra­ge beant­wor­tet haben, nur 67 Per­so­nen einen Abschluss in der Schweiz (Schul­ab­schluss: 23, Berufs­ab­schluss: 20, Hochschulabschluss/Studium: 3, ande­re: 21). 117 haben kei­nen Bil­dungs­ab­schluss in der Schweiz. Das sind über 67 Pro­zent. Nur 7.8 Pro­zent der Befrag­ten (15 von 193 Befrag­ten, die die Fra­ge beant­wor­tet haben) sind im Kan­ton Aar­gau erwerbstätig.
Anne Burgmer
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