Andere Dimensionen
Retrospektive: Marina Abramović
Die Performance-Künstlerin Marina Abramović hat sich und ihr Publikum nie geschont. In der Retrospektive im Kunsthaus Zürich ist das Werk einer Künstlerin zu sehen, die genau wissen will, was es mit der menschlichen Existenz auf sich hat.
Als Marina Abramović am 28. Juni barfuss auf die Bühne des Musikfestivals in Glastonbury trat, war sie sichtlich nervös. In einem weissen Kleid mit ihren langen schwarzen Haaren stand sie vor Tausenden Menschen, die eigentlich ein Konzert erwarteten. «Hello everybody», begrüsste die Künstlerin die Menge mit ihrem ausgeprägten serbischen Akzent. «We need complete collaboration» – «Wir brauchen volle Unterstützung», sagte Marina Abramović und schlug den Menschen in Partylaune vor, sieben Minuten zu schweigen. Die Welt sei ein übler Ort. Wut fördere mehr Wut, Töten provoziere mehr Töten, Demonstrationen brächten weitere Demonstrationen. Hier wolle sie etwas anderes probieren, nämlich dem Nächsten bedingungslose Liebe entgegenzubringen. «Change yourself to change the world.» «Ändert euch selbst, um die Welt zu ändern», schlug die Künstlerin der Menge vor.
Die Menschen sollten eine Hand auf die Schulter der Nachbarin oder des Nachbars legen und die Augen schliessen. Ein grosser Gong wurde geschlagen, und 250 000 Menschen standen schweigend mit geschlossenen Augen da, sich umarmend, sich haltend. Marina Abramović streckte langsam ihre Arme aus und spannte damit ihr Kleid in ein Peace-Zeichen auf. Niemand störte das Schweigen. Nach sieben Minuten ertönte der Gong erneut, und die Menge applaudierte.
Grenzen ausloten
Dies ist die jüngste Arbeit der berühmtesten, noch lebenden Performancekünstlerin, die seit über 50 Jahren sich selbst, zwischenmenschliche Beziehungen und die Bedingungen der menschlichen Existenz erforscht. Marina Abramović wurde 1946 in Belgrad geboren. Sie studierte an der Akademie für Bildende Künste Malerei, fand aber bald heraus, dass die Kunstform der Performance ihr Medium war. In den ersten Performances der Serie Rhythm lotete sie die Grenzen ihres Körpers aus, etwa in der Performance Rhythm 10. Dabei legte sie weisses Papier auf den Boden und stach mit der rechten Hand zu einem Musikstück mit insgesamt 20 verschiedenen Messern in die Zwischenräume ihrer linken Hand. Schnitt sie sich, wechselte sie das Messer. Dabei ging es nicht um Masochismus oder ein makabres Spiel, sondern um einen willentlich herbeigeführten Schmerz, den sie ritualisiert überwinden wollte. Die Künstlerin versprach sich davon eine heilende Wirkung, nicht nur für sich, sondern auch für die Zuschauenden. In solchen kathartischen Ritualen versteht sich die Künstlerin als Instrument, mit dem das Publikum sich der eigenen existentiellen Bedingungen bewusst werden kann.
Marina Abramović
Retrospektive
Zum ersten Mal in der Schweiz zeigt das Kunsthaus Zürich eine Retrospektive der Performancekünstlerin Marina Abramović. Die Ausstellung dauert noch bis zum 16. Februar. Sie zeigt Werke aus allen Schaffensperioden der Künstlerin. Zu sehen sind verschiedenen Medien wie Video, Fotografie, Skulptur und Zeichnung. Einige Performances werden live aufgeführt. So können Sie beispielsweise selbst durch die Pforte der Imponderabilia schreiten. Vier bis fünf Mal täglich wird die Performance nachgespielt. Für den Besuch ist die Reservation eines Zeitfensters auf der Website des Museums erforderlich.
Jeden Freitag um 15 Uhr und jeden Samstag um 10.30 Uhr finden öffentliche Führungen statt. Tickets dafür können ebenfalls online gebucht werden. Ausserdem gibt es drei weitere Performances, bei denen die Besuchenden teilnehmen können. Die Informationen und Zeitangaben dazu finden Sie ebenfalls auf der Website des Kunsthauses.
In der Wasserkirche in Zürich ist bis am 5. Januar die Installation Four Crosses zu sehen. In diesem Werk hinterfragt Marina Abramović christliche Frauenbilder. Am 24. Und 25. Dezember bleibt die Ausstellung in der Wasserkirche geschlossen.
Das Gespräch in der Paulus Akademie zwischen Jeannette Fischer und Marina Abramović können Sie sich unter diesem Link ansehen und anhören.
Von einer Dimension zur anderen
Als Marina Abramović 1975 den Künstler Ulay kennenlernte, begann eine intensive persönliche und künstlerische Zusammenarbeit. Gemeinsam reisten sie während drei Jahren in einem Citröen-Transporter quer durch Europa, wo sie zusammen performten. Im Juni 1977 inszenierten sie in der Galleria Comunale d’Arte Moderna in Bologna ihre berühmt gewordene Performance Imponderabilia. Marina Abramović und Ulay positionierten sich nackt in einem Türrahmen. Die Besucherinnen und Besucher quetschten sich zwischen ihnen durch. Das Video der Performance zeigt, wie die Menschen, die sich an den nackten Körpern vorbeizwängten, es kaum wagten, den Menschen, denen sie gerade so nahe kamen, in die Augen zu schauen. Sie hätten die Intimsphäre der Kunstschaffenden respektieren und die Pforte nicht durchschreiten können, entschieden sich aber dagegen. Das Durchschreiten dieser körperlichen Enge erinnert an eine Geburt, an einen Übergang von einem Abschnitt zu einem anderen, von einer Dimension zu einer neuen. Auch darum geht es Marina Abramović in ihren Arbeiten.
Immaterialität und Stille
1981 verkauften die beiden ihren Transporter und flogen nach Australien, wo sie während sechs Monaten bei einem indigenen Volk im Outback lebten. Marina Abramović machte in dieser Zeit Erfahrungen, die ihr Verhältnis zu Immaterialität und Stille veränderten. In dieser Zeit entstand zum ersten Mal die Idee zur Performance The Lovers, The Great Wall Walk. Von März bis Juni 1988 gingen sich Marina Abramović und Ulay auf der Chinesischen Mauer entgegengehen, um sich in der Mitte der Mauer zu treffen. Was als Hochzeitsritual geplant war, wurde zum Trennungsritual. Bis die Kunstschaffenden die Bewilligung des chinesischen Staates bekamen für die Performance, hatte sich die Beziehung des Paares immer mehr verschlechtert. Die Umarmung auf der Chinesischen Mauer markierte das offizielle Ende ihrer intensiven Liebes- und Künstlerbeziehung.
Kritischer Blick auf die Heimat
Obwohl Marina Abramović nie wieder nach Jugoslawien zurückzog, beschäftigte sie sich intensiv mit Themen aus ihrer Heimat. 1997, gegen Ende der Balkankriege, wurde die Künstlerin eingeladen, den jugoslawischen Pavillon an der Biennale in Venedig zu bespielen. Die Künstlerin entwarf ein Konzept, das den fortschreitenden Krieg thematisierte, was jedoch vom montenegrinischen Kulturminister nicht gutgeheissen wurde. Marina Abramović zog ihr Konzept daraufhin zurück. Im Untergeschoss des italienischen Pavillons konnte sie ihre Arbeit Balkan Baroque dennoch zeigen. Die Arbeit umfasste ein Video-Triptychon und eine mehrtägige Live-Performance. Im Video erklärt die Künstlerin im Laborkittel einer Wissenschaftlerin, wie die Menschen im Balkan Wolfsratten trainierten. Sie erläutert, dass Wolfsratten abgerichtete Ratten seien, die, entgegen ihrer Natur, andere Ratten jagen und töten. In der Live-Performance sass die Künstlerin inmitten blutiger Rinderknochen, die sie mit einer Bürste schrubbte und dabei jugoslawische Totenlieder sang. Die gleichnishafte Geschichte über die Ratten und die symbolische Handlung des Blutwegputzens verdichtete die Performance zu einem entlarvenden Kommentar zum brutalen Krieg.
Präsenz
2010 performte Marina Abramović The Artist is Present. Während ihrer Retrospektive im Museum of Modern Art in New York sass sie während der gesamten Öffnungszeiten reglos auf einem Stuhl vor einem Tisch. Ihr gegenüber durften die Besuchenden so lange sie wollten Platz nehmen, unter der Bedingung, dass sie schwiegen. Während der drei Monate der Ausstellung haben 1545 Menschen die Gelegenheit genutzt, in der Präsenz der Künstlerin zu sitzen und von ihr angeschaut zu werden. Die Porträts, die dabei entstanden und nun auch in der Ausstellung in Zürich zu sehen sind, zeigen emotional berührte Menschen, viele von ihnen mit Tränen in den Augen. Die Künstlerin schreibt dies dem urmenschlichen Bedürfnis nach Verbindung zu und dem Aufbrechen des Schmerzes gelebter Erfahrung, die in Momenten der Stille und der Verbundenheit durchbrechen.
Beitrag zum Frieden
Marina Abramović war am 27. Oktober zu Gast in der Paulus Akademie in Zürich zu einem Wintergespräch mit der Psychoanalytikerin Jeannette Fischer. «Wie geht Frieden?» ist das Thema der Gesprächsreihe. Die Antwort auf die Frage nach dem Frieden hat die Künstlerin mit dem Verweis auf ihre Performance in Glastonbury gegeben: Innehalten und sich seinem Nächsten in bedingungsloser Liebe zuwenden.