Ande­re Dimensionen
Marina Abramović / Ulay, The Lovers, The Great Wall Walk, März – Juni 1988 Performance, 90 Tage, Chinesische Mauer, China
Bild: © Cour­te­sy of the Mari­na Abra­mo­vić Archi­ves / 2024

Ande­re Dimensionen

Retrospektive: Marina Abramović

Die Performance-Künstlerin Marina Abramović hat sich und ihr Publikum nie geschont. In der Retrospektive im Kunsthaus Zürich ist das Werk einer Künstlerin zu sehen, die genau wissen will, was es mit der menschlichen Existenz auf sich hat.

Als Mari­na Abra­mo­vić am 28. Juni bar­fuss auf die Büh­ne des Musik­fe­sti­vals in Glas­ton­bu­ry trat, war sie sicht­lich ner­vös. In einem weis­sen Kleid mit ihren lan­gen schwar­zen Haa­ren stand sie vor Tau­sen­den Men­schen, die eigent­lich ein Kon­zert erwar­te­ten. «Hel­lo every­body», begrüss­te die Künst­le­rin die Men­ge mit ihrem aus­ge­präg­ten ser­bi­schen Akzent. «We need com­ple­te col­la­bo­ra­ti­on» – «Wir brau­chen vol­le Unter­stüt­zung», sag­te Mari­na Abra­mo­vić und schlug den Men­schen in Par­ty­lau­ne vor, sie­ben Minu­ten zu schwei­gen. Die Welt sei ein übler Ort. Wut för­de­re mehr Wut, Töten pro­vo­zie­re mehr Töten, Demon­stra­tio­nen bräch­ten wei­te­re Demon­stra­tio­nen. Hier wol­le sie etwas ande­res pro­bie­ren, näm­lich dem Näch­sten bedin­gungs­lo­se Lie­be ent­ge­gen­zu­brin­gen. «Chan­ge yours­elf to chan­ge the world.» «Ändert euch selbst, um die Welt zu ändern», schlug die Künst­le­rin der Men­ge vor.

Die Men­schen soll­ten eine Hand auf die Schul­ter der Nach­ba­rin oder des Nach­bars legen und die Augen schlies­sen. Ein gros­ser Gong wur­de geschla­gen, und 250 000 Men­schen stan­den schwei­gend mit geschlos­se­nen Augen da, sich umar­mend, sich hal­tend. Mari­na Abra­mo­vić streck­te lang­sam ihre Arme aus und spann­te damit ihr Kleid in ein Peace-Zei­chen auf. Nie­mand stör­te das Schwei­gen. Nach sie­ben Minu­ten ertön­te der Gong erneut, und die Men­ge applaudierte.

Gren­zen ausloten

Dies ist die jüng­ste Arbeit der berühm­te­sten, noch leben­den Per­for­mance­künst­le­rin, die seit über 50 Jah­ren sich selbst, zwi­schen­mensch­li­che Bezie­hun­gen und die Bedin­gun­gen der mensch­li­chen Exi­stenz erforscht. Mari­na Abra­mo­vić wur­de 1946 in Bel­grad gebo­ren. Sie stu­dier­te an der Aka­de­mie für Bil­den­de Kün­ste Male­rei, fand aber bald her­aus, dass die Kunst­form der Per­for­mance ihr Medi­um war. In den ersten Per­for­man­ces der Serie Rhythm lote­te sie die Gren­zen ihres Kör­pers aus, etwa in der Per­for­mance Rhythm 10. Dabei leg­te sie weis­ses Papier auf den Boden und stach mit der rech­ten Hand zu einem Musik­stück mit ins­ge­samt 20 ver­schie­de­nen Mes­sern in die Zwi­schen­räu­me ihrer lin­ken Hand. Schnitt sie sich, wech­sel­te sie das Mes­ser. Dabei ging es nicht um Maso­chis­mus oder ein maka­bres Spiel, son­dern um einen wil­lent­lich her­bei­ge­führ­ten Schmerz, den sie ritua­li­siert über­win­den woll­te. Die Künst­le­rin ver­sprach sich davon eine hei­len­de Wir­kung, nicht nur für sich, son­dern auch für die Zuschau­en­den. In sol­chen kathar­ti­schen Ritua­len ver­steht sich die Künst­le­rin als Instru­ment, mit dem das Publi­kum sich der eige­nen exi­sten­ti­el­len Bedin­gun­gen bewusst wer­den kann.

Mari­na Abramović

Retro­spek­ti­ve

Zum ersten Mal in der Schweiz zeigt das Kunst­haus Zürich eine Retro­spek­ti­ve der Per­for­mance­künst­le­rin Mari­na Abra­mo­vić. Die Aus­stel­lung dau­ert noch bis zum 16. Febru­ar. Sie zeigt Wer­ke aus allen Schaf­fens­pe­ri­oden der Künst­le­rin. Zu sehen sind ver­schie­de­nen Medi­en wie Video, Foto­gra­fie, Skulp­tur und Zeich­nung. Eini­ge Per­for­man­ces wer­den live auf­ge­führt. So kön­nen Sie bei­spiels­wei­se selbst durch die Pfor­te der Impon­de­ra­bi­lia schrei­ten. Vier bis fünf Mal täg­lich wird die Per­for­mance nach­ge­spielt. Für den Besuch ist die Reser­va­ti­on eines Zeit­fen­sters auf der Web­site des Muse­ums erforderlich.

Jeden Frei­tag um 15 Uhr und jeden Sams­tag um 10.30 Uhr fin­den öffent­li­che Füh­run­gen statt. Tickets dafür kön­nen eben­falls online gebucht wer­den. Aus­ser­dem gibt es drei wei­te­re Per­for­man­ces, bei denen die Besu­chen­den teil­neh­men kön­nen. Die Infor­ma­tio­nen und Zeit­an­ga­ben dazu fin­den Sie eben­falls auf der Web­site des Kunsthauses.

In der Was­ser­kir­che in Zürich ist bis am 5. Janu­ar die Instal­la­ti­on Four Cros­ses zu sehen. In die­sem Werk hin­ter­fragt Mari­na Abra­mo­vić christ­li­che Frau­en­bil­der. Am 24. Und 25. Dezem­ber bleibt die Aus­stel­lung in der Was­ser­kir­che geschlossen.

Das Gespräch in der Pau­lus Aka­de­mie zwi­schen Jean­nette Fischer und Mari­na Abra­mo­vić kön­nen Sie sich unter die­sem Link anse­hen und anhö­ren.

Andere Dimensionen - Lichtblick Römisch-katholisches Pfarrblatt der Nordwestschweiz
Ulay / Mari­na Abra­mo­vić, Impon­de­ra­bi­lia, 1977 Per­for­mance, 90’, Gal­le­ria Comu­na­le d’Arte Moder­na, Bolo­gna © Gio­van­na Dal Magro, Cour­te­sy of the Mari­na Abra­mo­vić Archi­ves / 2024

Von einer Dimen­si­on zur anderen

Als Mari­na Abra­mo­vić 1975 den Künst­ler Ulay ken­nen­lern­te, begann eine inten­si­ve per­sön­li­che und künst­le­ri­sche Zusam­men­ar­beit. Gemein­sam rei­sten sie wäh­rend drei Jah­ren in einem Citrö­en-Trans­por­ter quer durch Euro­pa, wo sie zusam­men per­form­ten. Im Juni 1977 insze­nier­ten sie in der Gal­le­ria Comu­na­le d’Arte Moder­na in Bolo­gna ihre berühmt ­gewor­de­ne Per­for­mance Impon­de­ra­bi­lia. Mari­na Abra­mo­vić und Ulay posi­tio­nier­ten sich nackt in einem Tür­rah­men. Die Besu­che­rin­nen und Besu­cher quetsch­ten sich zwi­schen ihnen durch. Das Video der Per­for­mance zeigt, wie die Men­schen, die sich an den nack­ten Kör­pern vor­bei­zwäng­ten, es kaum wag­ten, den Men­schen, denen sie gera­de so nahe kamen, in die Augen zu schau­en. Sie hät­ten die Intim­sphä­re der Kunst­schaf­fen­den respek­tie­ren und die Pfor­te nicht durch­schrei­ten kön­nen, ent­schie­den sich aber dage­gen. Das Durch­schrei­ten die­ser kör­per­li­chen Enge erin­nert an eine Geburt, an einen Über­gang von einem Abschnitt zu einem ande­ren, von einer Dimen­si­on zu einer neu­en. Auch dar­um geht es Mari­na Abra­mo­vić in ihren Arbeiten.

Imma­te­ria­li­tät und Stille

1981 ver­kauf­ten die bei­den ihren Trans­por­ter und flo­gen nach Austra­li­en, wo sie wäh­rend sechs Mona­ten bei einem indi­ge­nen Volk im Out­back leb­ten. Mari­na Abra­mo­vić mach­te in die­ser Zeit Erfah­run­gen, die ihr Ver­hält­nis zu Imma­te­ria­li­tät und Stil­le ver­än­der­ten. In die­ser Zeit ent­stand zum ersten Mal die Idee zur Per­for­mance The Lovers, The Gre­at Wall Walk. Von März bis Juni 1988 gin­gen sich Mari­na Abra­mo­vić und Ulay auf der Chi­ne­si­schen Mau­er ent­ge­gen­ge­hen, um sich in der Mit­te der Mau­er zu tref­fen. Was als Hoch­zeits­ri­tu­al geplant war, wur­de zum Tren­nungs­ri­tu­al. Bis die Kunst­schaf­fen­den die Bewil­li­gung des chi­ne­si­schen Staa­tes beka­men für die Per­for­mance, hat­te sich die Bezie­hung des Paa­res immer mehr ver­schlech­tert. Die Umar­mung auf der Chi­ne­si­schen Mau­er mar­kier­te das offi­zi­el­le Ende ihrer inten­si­ven Lie­bes- und Künstlerbeziehung.

Kri­ti­scher Blick auf die Heimat

Obwohl Mari­na Abra­mo­vić nie wie­der nach Jugo­sla­wi­en zurück­zog, beschäf­tig­te sie sich inten­siv mit The­men aus ihrer Hei­mat. 1997, gegen Ende der Bal­kan­krie­ge, wur­de die Künst­le­rin ein­ge­la­den, den jugo­sla­wi­schen Pavil­lon an der Bien­na­le in Vene­dig zu bespie­len. Die Künst­le­rin ent­warf ein Kon­zept, das den fort­schrei­ten­den Krieg the­ma­ti­sier­te, was jedoch vom mon­te­ne­gri­ni­schen Kul­tur­mi­ni­ster nicht gut­ge­heis­sen wur­de. Mari­na Abra­mo­vić zog ihr Kon­zept dar­auf­hin zurück. Im Unter­ge­schoss des ita­lie­ni­schen Pavil­lons konn­te sie ihre Arbeit Bal­kan Baro­que den­noch zei­gen. Die Arbeit umfass­te ein Video-Tri­pty­chon und eine mehr­tä­gi­ge Live-Per­for­mance. Im Video erklärt die Künst­le­rin im Labor­kit­tel einer Wis­sen­schaft­le­rin, wie die Men­schen im Bal­kan Wolfs­rat­ten trai­nier­ten. Sie erläu­tert, dass Wolfs­rat­ten abge­rich­te­te Rat­ten sei­en, die, ent­ge­gen ihrer Natur, ande­re Rat­ten jagen und töten. In der Live-Per­for­mance sass die Künst­le­rin inmit­ten blu­ti­ger Rin­der­kno­chen, die sie mit einer Bür­ste schrubb­te und dabei jugo­sla­wi­sche Toten­lie­der sang. Die gleich­nis­haf­te Geschich­te über die Rat­ten und die sym­bo­li­sche Hand­lung des Blut­weg­put­zens ver­dich­te­te die Per­for­mance zu einem ent­lar­ven­den Kom­men­tar zum bru­ta­len Krieg.

Prä­senz

2010 per­form­te Mari­na Abra­mo­vić The Artist is Pre­sent. Wäh­rend ihrer Retro­spek­ti­ve im Muse­um of Modern Art in New York sass sie wäh­rend der gesam­ten Öff­nungs­zei­ten reg­los auf einem Stuhl vor einem Tisch. Ihr gegen­über durf­ten die Besu­chen­den so lan­ge sie woll­ten Platz neh­men, unter der Bedin­gung, dass sie schwie­gen. Wäh­rend der drei Mona­te der Aus­stel­lung haben 1545 Men­schen die Gele­gen­heit genutzt, in der Prä­senz der Künst­le­rin zu sit­zen und von ihr ange­schaut zu wer­den. Die Por­träts, die dabei ent­stan­den und nun auch in der Aus­stel­lung in Zürich zu sehen sind, zei­gen emo­tio­nal berühr­te Men­schen, vie­le von ihnen mit Trä­nen in den Augen. Die Künst­le­rin schreibt dies dem urmensch­li­chen Bedürf­nis nach Ver­bin­dung zu und dem Auf­bre­chen des Schmer­zes geleb­ter Erfah­rung, die in Momen­ten der Stil­le und der Ver­bun­den­heit durchbrechen.

Bei­trag zum Frieden

Mari­na Abra­mo­vić war am 27. Okto­ber zu Gast in der Pau­lus Aka­de­mie in Zürich zu einem Win­ter­ge­spräch mit der Psy­cho­ana­ly­ti­ke­rin Jean­nette Fischer. «Wie geht Frie­den?» ist das The­ma der Gesprächs­rei­he. Die Ant­wort auf die Fra­ge nach dem Frie­den hat die Künst­le­rin mit dem Ver­weis auf ihre Per­for­mance in Glas­ton­bu­ry gege­ben: Inne­hal­ten und sich sei­nem Näch­sten in bedin­gungs­lo­ser Lie­be zuwenden.

Eva Meienberg
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