Acht Stun­den hoch zu Ross

Acht Stun­den hoch zu Ross

Fei­er­li­che Pro­zes­sio­nen und Bitt­gän­ge durch Fel­der und Wie­sen am und um den Auf­fahrts­tag, also an Chri­sti Him­mel­fahrt am vier­zig­sten Tag nach Ostern, waren frü­her in katho­li­schen Gebie­ten ver­brei­tet. Heu­te fin­den sie nur noch an eini­gen Orten rund ums luzer­ni­sche Bero­mün­ster statt.Wie die Pro­zes­sio­nen an Fron­leich­nam erhiel­ten auch die Auf­fahrts-Pro­zes­sio­nen ihr cha­rak­te­ri­sti­sches fest­li­ches Geprä­ge in der Zeit der Gegen­re­for­ma­ti­on. Im Barock erfuh­ren sie oft­mals noch eine Stei­ge­rung ins Pom­pö­se. Heut­zu­ta­ge kennt in der Schweiz nur noch der Kan­ton Luzern die Tra­di­ti­on des Umgangs oder Umritts an «Uffert». In Altis­ho­fen, Bero­mün­ster, Ettis­wil, Gross­wan­gen, Hitz­kirch, Müs­wan­gen und Sem­pach fin­den heu­te noch aus­ge­dehn­te Pro­zes­sio­nen statt. Die Teil­neh­mer bewäl­ti­gen die Pro­zes­si­on je nach Funk­ti­on im Brauch­ge­fü­ge zu Fuss oder zu Pferd. Der gröss­te, älte­ste und bekann­te­ste die­ser Anläs­se ist der Auf­fahrts­um­ritt von Bero­mün­ster. Rund zwei­tau­send Per­so­nen bege­ben sich jedes Jahr auf die acht­zehn Kilo­me­ter lan­ge Strecke – oder zumin­dest auf ein­zel­ne Etap­pen davon –, um in Gesell­schaft ande­rer zu wan­dern, zu medi­tie­ren, zu beten, Seg­nun­gen zu emp­fan­gen oder Pre­dig­ten zu hören. Von Bero­mün­ster aus führt der Weg über eine fest­ge­leg­te, im Wesent­li­chen seit Jahr­hun­der­ten unver­än­der­te Rou­te in benach­bar­te Wei­ler und Dör­fer. Nach acht­ein­halb Stun­den gelangt der Pro­zes­si­ons­zug wie­der an den Aus­gangs­punkt zurück. Dort erwar­ten ihn bis zu acht­tau­send Leu­te, um gemein­sam mit den Pil­gern­den die Fei­er aus­klin­gen zu las­sen.

Bestä­tig­te Gren­zen, geseg­ne­te Fluren

D’Möischterer Uffert», wie die Pro­zes­si­on und die ihr ange­glie­der­ten Brauch­ele­men­te von den Orts­an­säs­si­gen genannt wer­den, steht histo­risch gese­hen in der Tra­di­ti­ons­li­nie der mit­tel­al­ter­li­chen Umrit­te. Sie dien­ten den welt­li­chen oder kirch­li­chen Her­ren zur zere­mo­ni­el­len Kenn­zeich­nung und Bekräf­ti­gung ihres Hoheits­ge­biets. In der Kirch­ge­mein­de Bero­mün­ster fand ein sol­ches ritu­el­les Pro­ze­de­re nach­weis­lich im Jahr 1420 statt, als der Pfar­rer mit einem klei­nen Gefol­ge die Pfar­rei­gren­zen abritt und Gott um Schutz für Men­schen, Tie­re und Fel­der bat. 1509 ver­füg­te Hein­rich Feer, der Propst des im Flecken ange­sie­del­ten Kol­le­gi­at­stifts, all­jähr­lich an Auf­fahrt eine Flur­pro­zes­si­on durch­zu­füh­ren. Die­ser Beschluss gilt als eigent­li­cher Grün­dungs­akt des Mün­sterer Auf­fahrts­um­ritts.

Stift mit stra­te­gi­scher Bedeutung

Als die benach­bar­ten aar­gaui­schen Gemein­den 1528 zum neu­en Glau­ben über­tra­ten, erhielt das Stift für die katho­li­schen Lan­de eine beson­de­re geo­stra­te­gi­sche Bedeu­tung. Sei­ne Reprä­sen­tan­ten form­ten die Pro­zes­si­on zu einer opu­lent aus­ge­stal­te­ten Mani­fe­sta­ti­on des alten Glau­bens aus. Im Gegen­satz zu den refor­mier­ten Gebie­ten, in denen sich die Umrit­te zu säku­la­ri­sier­ten Brauch­ri­tua­len ent­wickel­ten, beton­te die katho­li­sche Trä­ger­schaft den Gedan­ken der kirch­li­chen Seg­nung der Äcker und Wie­sen. Tat­säch­lich ist die­se Akzen­tu­ie­rung bis heu­te unüber­seh­bar. Immer wie­der macht der Pil­ger­zug an Sta­tio­nen halt, um Gott­va­ter und sei­nen Sohn Jesus zu ehren, ihnen Dank zu sagen und sie um künf­ti­ges Wohl­erge­hen zu bit­ten. Vier­zehn auf die gesam­te Strecke ver­teil­te Tri­umph­bö­gen aus Tan­nen­rei­sig die­nen der Mar­kie­rung die­ser Zwi­schen­stopps. Sie wer­den meist von den Anwoh­nern des Pro­zes­si­ons­wegs in auf­wän­di­ger Frei­wil­li­gen­ar­beit instal­liert und mit Blu­men, Stoff­bän­dern, Bil­dern, Figu­ren, Fähn­chen, Kel­chen und Kreu­zen aus­ge­schmückt. Zur Palet­te der Deko­ra­ti­ons­ob­jek­te gehö­ren seit dem 19. Jahr­hun­dert auch Inschrift-Tafeln mit from­men Sprü­chen. So lau­tet bei­spiels­wei­se eine der dort ange­brach­ten Bot­schaf­ten: «Alles zu Ehren des ein­her­ge­hen­den Königs der ewi­gen Herr­lich­keit!» An den reprä­sen­ta­tiv auf­ge­mach­ten Tri­umph­bö­gen wie­der­holt sich ste­tig eine der zen­tra­len Ritu­al­hand­lun­gen des Auf­fahrts­um­ritts: das Ertei­len des Segens durch den Pfar­rer. Die ent­spre­chen­de Geste erfolgt unter Ein­be­zug einer geweih­ten Hostie, die in der Mon­stranz mit­ge­führt wird. In der Mün­sterer Aus­füh­rung ist das schmuck­vol­le Hosti­en­be­hält­nis in der Form einer ova­len, email­lier­ten Plat­te gehal­ten, damit es vom rei­ten­den Pfar­rer um den Hals getra­gen wer­den kann.

Zu Fuss und hoch zu Ross – ein lan­ger Umzugstross

Der gröss­te Teil des Zugs besteht aus rund zwei­tau­send Pil­gern, die den Weg in ein­zel­nen Grup­pen zu Fuss bege­hen. Die einen beten laut den Rosen­kranz, die ande­ren ver­rich­ten ihre Gebe­te still. Auch gibt es Teil­neh­men­de, für die weni­ger das katho­lisch ritua­li­sier­te Beten im Vor­der­grund steht, son­dern das Medi­tie­ren im All­ge­mei­nen. Der gemein­sa­me Nen­ner aller Prak­ti­ken besteht wohl in einer Art der Selbst­be­sin­nung, die das eige­ne Ich im Kon­text der sozia­len, natür­li­chen und gött­li­chen Umwelt betrach­tet und befragt. Für den plan­mäs­si­gen Ablauf sorgt ein berit­te­ner Ord­nungs­dienst. Er besteht aus etwa zwei Dut­zend Män­nern in histo­ri­schen Kaval­le­rie­uni­for­men, die sich auf den gan­zen Pil­ger­zug ver­tei­len. Das Ende der Pro­zes­si­on bil­den bis zu zwei­hun­dert Rei­te­rin­nen und Rei­ter. Sie wer­den vom rot gewan­de­ten Stifts­wei­bel mit dem St. Michaels­stab ange­führt, gefolgt von Fah­nen, Kreuz und Later­nen­trä­gern in weis­sen Chor­röcken. Dann tre­ten die zwan­zig uni­for­mier­ten Blä­ser der «Rei­ter­mu­sik Gun­zwil» in Akti­on. An genau fest­ge­leg­ten Weg­mar­ken into­nie­ren sie Mär­sche, Cho­rä­le, Kir­chen­lie­der und – jeweils kurz nach Beginn des Umritts – die Schwei­ze­ri­sche Natio­nal­hym­ne. Ihre Prä­senz ver­leiht dem Brauch­an­lass nebst der cha­rak­te­ri­sti­schen musi­ka­li­schen Grun­die­rung einen kräf­ti­gen Schuss Exklu­si­vi­tät und Spek­ta­kel, zumal das har­mo­ni­sche Musi­zie­ren hoch zu Ross eini­ges an Geschick­lich­keit ver­langt und es in der Schweiz auch nur noch eine Hand­voll sol­cher berit­te­ner For­ma­tio­nen gibt.

Auch der Bischof sat­telt das Pferd

Die Rei­ter­mu­sik ging 1897 aus der sechs Jah­re zuvor gegrün­de­ten «Feld­mu­sik Gun­zwil» her­vor. Seit­her beglei­te­te sie, von ein­zel­nen Aus­nah­men abge­se­hen, jeden Umritt. Gewiss ver­moch­te das Spiel der Blas­mu­si­ker neue klang­li­che und ästhe­ti­sche Stan­dards zu set­zen, eine eigent­li­che Brau­ch­in­no­va­ti­on stell­te es aber nicht dar. Bereits im Jahr 1696 ver­merk­te der Stifts­chro­nist den Auf­tritt von vier berit­te­nen Trom­pe­tern an der Auf­fahrts­pro­zes­si­on. Hin­ter der Musik rei­hen sich die kirch­li­chen Amts- und Wür­den­trä­ger in den Zug ein. Zunächst die Kir­chen­rä­te der Pfar­rei St. Ste­phan und die Mit­glie­der des «Rit­ter­or­dens vom Hei­li­gen Grab zu Jeru­sa­lem», danach die Geist­lich­keit in weis­sen Kir­chen­ge­wän­dern. Eine beson­de­re Posi­ti­on im Tross nimmt der jähr­lich wech­seln­de Ehren­pre­di­ger auf dem Schim­mel ein. Oft­mals han­delt es sich um einen Bischof, einen Gene­ral­vi­kar, einen Abt oder einen Kapu­zi­ner­pa­ter. Er zele­briert auf hal­ber Strecke eine andert­halb­stün­di­ge Mes­se in der Kir­che Ricken­bach und ergreift dann zum Abschluss des Umritts in Bero­mün­ster noch­mals das Wort. Am Ende des offi­zi­el­len Pro­zes­si­ons­zugs rei­ten die Sän­ge­rin­nen und Sän­ger des Kir­chen­chors, die Kir­chen­rä­te von Ricken­bach sowie ver­schie­de­ne Stan­dar­ten­trä­ger mit. Ihnen schlies­sen sich noch Pri­vat­per­so­nen auf ihren eige­nen Pfer­den an. Ihre Anzahl schwankt je nach Wit­te­rung zwi­schen fünf­zig und hun­dert.

Fest­li­cher Ein­zug in Beromünster

Was mor­gens um 5.30 Uhr im Flecken Bero­mün­ster unter den Augen eini­ger weni­ger Zuschau­er begann, endet am sel­ben Ort um 14 Uhr vor einem gros­sen Publi­kum. Tau­sen­de war­ten am Stras­sen­rand, um den Ein­zug der Pro­zes­si­on zu erle­ben. Die Fei­er­lich­keit des Moments wird durch das Hin­zu­fü­gen wei­te­rer Deko­ra­ti­ons­ele­men­te am Dorf­rand noch betont: Die Pfer­de des Ehren­pre­di­gers und des Pfar­rers erhal­ten eine weis­se gehä­kel­te Decke umge­legt. Der Rei­ter­mu­sik wird ein Pferd mit umge­häng­ten Pau­ken zuge­führt (wäh­rend des Umritts wird auf Schlag­in­stru­men­te ver­zich­tet). Und der Pfar­rer bekommt vier Rei­ter zum Geleit, die einen weiss­gol­de­nen Bal­da­chin über ihm und dem Aller­hei­lig­sten – der in der Mon­stranz prä­sen­tier­ten Hostie – auf­span­nen. Unter dem in der Haupt­gas­se auf­ge­stell­ten Tri­umph­bo­gen neh­men die Geist­li­chen die letz­ten zere­mo­ni­el­len Hand­lun­gen vor. Sie beten gemein­sam mit den anwe­sen­den Gläu­bi­gen das Vater­un­ser und spre­chen den Schluss­se­gen. Zum Aus­klang wird das bekann­te Kir­chen­lied «Gros­ser Gott, wir loben Dich» ange­stimmt. Die mei­sten Pil­ger und Zuschau­er bege­ben sich danach auf einen Umtrunk oder eine klei­ne Mahl­zeit in die umlie­gen­den Gast­hö­fe. Eini­ge machen zuvor noch einen kur­zen Abste­cher in die Stifts­kir­che, wo ihnen die Chor­her­ren ein letz­tes, sehr bild­haf­tes Auf­fahrts­ri­tu­al bie­ten: Eine höl­zer­ne Chri­stus­fi­gur schwebt – an Sei­len empor­ge­zo­gen – zur Decke hin, um dann durch eine Öff­nung im (Himmels-)Gewölbe zu ent­schwin­den.

Anre­gung vom Chor­her­ren­stift Beromünster

Nebst dem Auf­fahrts­um­ritt in und um Bero­mün­ster fin­den im Kan­ton Luzern fünf wei­te­re, im Wesent­li­chen ana­log ablau­fen­de Umrit­te statt, näm­lich in Altis­ho­fen, Ettis­wil, Gross­wan­gen, Hitz­kirch und Sem­pach. Vie­les deu­tet dar­auf hin, dass die Anre­gung zu deren Ent­ste­hung direkt vom Chor­her­ren­stift Bero­mün­ster aus­ging – zumin­dest unter­hielt der dama­li­ge Stifts­propst Hein­rich Feer ver­wandt­schaft­li­che und freund­schaft­li­che Kon­tak­te in die genann­ten Gemein­den. Die Erst­durch­füh­rung des Gross­wan­ger Umritts erfolg­te 1510, also nur ein Jahr nach dem Beginn in Bero­mün­ster. In Sem­pach hin­ge­gen nahm man die Ritu­al­pra­xis erst 1520 auf. Mehr zum Brauch­tum in der Schweiz: www.lebendigetraditionen.ch 
Marie-Christine Andres Schürch
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