Abschied von Till

Hoch­ge­steck­tes rot­blon­des Haar, hel­le Augen: Ker­stin Bir­keland ist 40 Jah­re alt und Voll­zeit­ma­mi in einem Leben unter Voll­dampf. Ihre Töch­ter Nele und Malin, zwei- und 12-jäh­rig, sit­zen mit am rie­si­gen Ess­tisch in der licht­durch­flu­te­ten Wohn­eta­ge des Hau­ses in Diels­dorf, malen und hören zu. Die Geschich­te, die Ker­stin Bir­keland mit raschen ener­gie­ge­la­de­nen Wor­ten erzählt, ist bei­spiel­haft für den Umgang mit Tod, Trau­er und Abschied in einer Fami­lie. Mit am Tisch sitzt irgend­wie auch Till, der Sohn von Ker­stin Bir­keland und ihrem Mann Simon Acker­mann. Till, der 2010 im Alter von zehn Jah­ren starb. Sechs Jah­re ist er alt, als aus dem Nichts ein bös­ar­ti­ger Hirn­tu­mor bei ihm dia­gno­sti­ziert wird, der über­dies Meta­sta­sen gestreut hat. Malin ist zu dem Zeit­punkt 4‑jährig. Nach dem ersten Schock, so erklärt Ker­stin Bir­keland, war das Wich­tig­ste, die Zeit der Krank­heit nicht zum Alb­traum für die Fami­lie und die bei­den Kin­der wer­den zu las­sen. Was folgt sind vier Jah­re Spa­gat. Spa­gat zwi­schen zwei Kin­dern, die völ­lig unter­schied­lich mit der Situa­ti­on umge­hen. «Till woll­te klei­ne, über­schau­ba­re Häpp­chen. Er hat gefragt, was Krebs ist, woll­te jeweils wis­sen, was auf den Bil­dern aus den Unter­su­chun­gen zu sehen ist, aber nicht mehr. Er woll­te All­tag, beson­ders als irgend­wann klar war, dass er nur noch weni­ge Mona­te zu leben hat. Malin ist ganz anders. Sie woll­te alles 100 Pro­zent genau wis­sen. Woll­te grös­se­re Zeit­räu­me über­blicken und, ganz wich­tig, woll­te sel­ber gestal­ten», cha­rak­te­ri­siert Ker­stin Bir­keland ihre Kin­der.Vie­les wird möglich Irgend­wann ent­schei­det Malin, dass sie nicht mehr zur Schu­le gehen möch­te. Zu wert­voll ist ihr die gemein­sa­me Zeit mit dem Bru­der. Die Eltern zie­hen mit. Sie konn­ten Malin aus der Schu­le neh­men, ohne zu wis­sen für wie lan­ge. Sie hat­ten von Anfang an gesagt, dass sie das Jahr wie­der­ho­len wird. «Es gibt wich­ti­ge­res, als die Schu­le. Die Zeit mit ihrem Bru­der war nicht wie­der­hol­bar», stellt Ker­stin Bir­keland schlicht und ein­fach fest. Mög­lich wird die­ser Umgang mit den Wün­schen, Sor­gen und Nöten der Kin­der, weil Ker­stin Bir­keland und ihr Mann Simon Acker­mann ein Fami­li­en­kli­ma schaf­fen, in dem Fra­gen mög­lich sind und kei­ne Angst mit­schwin­gen braucht, ein Wunsch, eine Fra­ge, könn­te falsch oder unpas­send sein. Und die Schu­le? Die Behör­den? «Unse­re Erfah­rung ist, wenn man fragt, was mög­lich ist, und erklärt, war­um bestimm­te Din­ge wich­tig sind, kann man Vie­les ermög­li­chen, was auf den ersten Blick nicht geht», fasst Ker­stin Bir­keland zusam­men. Ein Weg, den die Fami­lie kon­se­quent geht, weil es ihr Weg ist. Ein Weg, den die Fami­lie als heil­sam erkennt.Kin­der sehen mehr Ein Weg, auf dem die Eltern auch von eige­nen Ãœber­zeu­gun­gen abse­hen, wenn sie bemer­ken, dass es ihren Kin­dern gut tut. Ker­stin Bir­keland bezeich­net ihre Fami­lie als kir­chen­fern und kauft, als Till es sich wünscht, drei Kin­der­bi­beln. Die Eltern wil­li­gen ein, als Till und Malin sich tau­fen las­sen wol­len. Für Till, so erklärt Ker­stin Bir­keland, war die Tau­fe eine Ver­bin­dung zu etwas Umfas­sen­de­rem, für Malin eine Ver­bin­dung zu Till über sein Erden­le­ben hin­aus. Wich­tig ist ihr und ihrem Mann, dass die Tau­fe den Kin­dern und der Fami­lie in ihrer Situa­ti­on ent­spricht. In Pfar­re­rin Katha­ri­na Hoby-Peter vom Pfarr­amt für Chil­bi- und Cir­cus-Seel­sor­ge fin­den sie eine Seel­sor­ge­rin, der es gelingt die Tauf­fei­er zu einer Ver­bin­dung von Him­mel und Erde, von Abschied und Wei­ter­le­ben zu gestal­ten. «Die Ver­bin­dung zum Him­mel hat Till Ver­trau­en gege­ben. Er hat dort mehr gese­hen als wir. Die letz­ten zwei Mona­te vor sei­nem Tod hat er mei­ne Hand kaum mehr los­ge­las­sen. 48 Stun­den vor sei­nem Tod, sag­te Till, er sei warm und ruhig im Her­zen. 24 Stun­den bevor er starb, liess er mei­ne Hand ein­fach los. Ich glau­be, das kann in die­ser Situa­ti­on nur ein Kind, das ver­traut, dass alles gut wird; das sich auf­ge­ho­ben weiss», sagt Ker­stin Bir­keland sicht­lich bewegt.Anders als vorgesehen Schon bevor Till stirbt, gestal­tet die Fami­lie das, was eine Beer­di­gung mit sich bringt. Erd­be­stat­tung und Abdan­kung in der Kir­che sol­len nicht zusam­men gefei­ert wer­den. Den weis­sen Lacksarg lässt die Fami­lie durch einen Natu­re-Sarg erset­zen. Malin malt den Sarg an, im hei­mi­schen Gar­ten und unter den skep­ti­schen Blicken der Pas­san­ten. Die mit­ge­lie­fer­ten Pla­stik­decken und ‑kis­sen zer­reisst sie. Sie fin­det sie gräss­lich. Malin legt nur deren Holz­schnip­sel-Fül­lung auf den Boden der «Regen­bo­gen­hül­le», wie sie den Sarg nennt, weil sie das Wort Sarg häss­lich fin­det. Die Holz­schnip­sel duf­ten gut und sind, ein Pro­be­lie­gen beweist es, weich und bequem. Dazu kom­men eine ech­te Decke, ein ech­tes Kis­sen.Malin ist acht Jah­re alt, als Till an einem Sams­tag­abend stirbt. Die letz­te Zeit hat die gesam­te Fami­lie bei ihm im Zim­mer geschla­fen: Matrat­zen­la­ger bei einem ster­ben­den Kind. «Vie­le Eltern glau­ben, sie müss­ten sofort nach dem Tod des Kin­des den Arzt und den Bestat­ter anru­fen. Auch wenn es mit­ten in der Nacht ist. Das stimmt nicht. Den Arzt haben wir abends ange­ru­fen, er ist ein Freund der Fami­lie. Die Gemein­de und den Bestat­ter ver­stän­dig­ten wir erst am Mon­tag. Weil es eine Erd­be­stat­tung sein soll­te, muss­te die­se direkt am Diens­tag sein. Auch da haben wir erklärt, war­um wir unse­ren Weg gehen wol­len und nicht möch­ten, dass Till sofort abge­holt wird. Till soll­te nach sei­nem Tod nicht in einem Kühl­fach «zwi­schen­ge­la­gert» wer­den. Und wie­der sind wir auf Ver­ständ­nis gestos­sen», greift Ker­stin Bir­keland den Fami­li­en­weg auf.Den Tod begreifen Malin küm­mert sich nach sei­nem Tod um Till. Die Eltern wer­den Sta­ti­sten: «Wir wuss­ten im Vor­feld nicht, ob und wie wir in der Lage sind, Malin zu beglei­ten. Des­halb war uns wich­tig, dass eine Bestat­te­rin zu uns kommt und mit Malin gemein­sam Till für die Bestat­tung vor­be­rei­tet», beschreibt Ker­stin Bir­keland. Und die Bestat­te­rin ist gedul­dig. Sie hilft Malin, Till ein­zu­ölen, wie­der und wie­der. Sie ver­liert nicht die Ner­ven, als Malin Till zum wie­der­hol­ten Mal umklei­den möch­te – eine Pro­ze­dur, die auf­grund der begin­nen­den Toten­star­re alles ande­re als ein­fach ist. «Der Tod muss begrif­fen wer­den», sagt Ker­stin Bir­keland und das geht nur «wenn ich ihn anfas­se».Das Haus der Fami­lie steht wäh­rend die­ser Zeit offen, wer sich von Till ver­ab­schie­den möch­te, ist will­kom­men. So offen die Fami­lie mit ihren eige­nen Kin­dern umge­gan­gen ist, so offen sind sie auch mit den Freun­den von Till. Wer möch­te, darf zu ihm, nach­dem Ker­stin Bir­keland erklärt hat, dass Till jetzt kalt ist. Dass sei­ne Haut Flecken hat. Eini­ge Kin­der trau­en sich das nicht zu, stel­len lie­ber Abschieds-Later­nen auf für Till. Ande­re besu­chen Till, sit­zen auf sei­nem Bett und sind bei ihm. «Kei­nes die­ser Kin­der hat einen Schock oder ein Trau­ma davon getra­gen. Im Gegen­teil. Sie konn­ten unbe­fan­gen und infor­miert den letz­ten Teil von Tills Anwe­sen­heit mit­er­le­ben», betont Ker­stin Bir­keland.Der letz­te Weg Auch der letz­te Akt ist geprägt vom Weg der Fami­lie: Das lieb­ste Kis­sen von Till, ein Schutz gegen Alb­träu­me, soll nach dem Wil­len der Eltern mit in den Sarg. Malin erhebt Ein­spruch: «Das könnt ihr ihm nicht mit­ge­ben, jetzt, wo ich es brau­che.» Und die Eltern sehen vom eige­nen Wunsch ab und sagen, «ja, dass zweit­lieb­ste tut es auch». Malin darf, obwohl eigent­lich nicht erlaubt, im Bestat­tungs­wa­gen mit­fah­ren. Eine Ehren­run­de um die letz­te Schu­le von Till, an der er sich wohl­fühl­te, inklu­si­ve. Die Fami­lie trägt den Sarg sel­ber. Das Grab darf bunt geschmückt wer­den und blei­ben – Ker­stin Bir­keland kennt auch ande­re Geschich­ten.Sie ist froh, dass sie als Fami­lie ihren Weg gegan­gen sind. Gegen Wider­stän­de oder «das war noch nie so»-Haltungen. Nicht ver­wun­der­lich, dass sie die Gedenk­fei­er ein Jahr nach dem Tod von Till in der Kir­che zu einer Uhr­zeit fei­ern konn­ten, an der die Kir­che sonst nicht offen ist. Die­se Erfah­rung gibt sie wei­ter: «Es gibt kei­nen Sinn im Tod eines 10-jäh­ri­gen Kin­des. Und mei­ne Art des Umgangs damit ist, ande­ren Fami­li­en Mut zu machen, offen zu sein. In einem Lebens­ab­schnitt, der unwie­der­bring­lich ist und wo sich vie­le ver­schlies­sen und nicht sel­ber gestal­ten.» Sie strei­tet nicht ab, dass feste Ritua­le und Abläu­fe auf Sei­ten von Behör­den und Kir­chen vie­len Men­schen ein festes Gerüst geben kön­nen. Doch sie ist der Ãœber­zeu­gung, dass Trau­er ein Raum ist, der gestal­tet wer­den kann und soll­te. Die Fami­li­en müs­sen sehr gut auf sich hören, was rich­tig ist. Ämter und Kir­chen müs­sen wie­der­um sehr gut zuhö­ren, soll­ten in der Lage sein, vom 0815-Sche­ma abzu­se­hen, wenn Fami­li­en mit ihren Wün­schen kom­men. Wo das nicht geschieht, kann Ker­stin Bir­keland beson­ders mit Kir­che nichts anfan­gen.Wei­ter­le­ben — Weitergeben Der Weg, den Ker­stin Bir­keland nach Tills Tod geht und der ande­ren Fami­li­en mit kran­ken Kin­dern Mut machen soll, heisst www.herzensbilder.ch – Ker­stin Bir­keland ver­mit­telt auf Anfra­ge Foto­gra­fen, die durch die Schweiz fah­ren und Erin­ne­rungs­bil­der machen in Fami­li­en, die ihren Weg fin­den müs­sen mit Krank­heit oder Tod. Der Erfolg der Platt­form gibt ihr Recht, die Anfra­gen, auch von Spi­tä­lern und Spi­tal­seel­sor­gern, sind so zahl­reich, dass sie mitt­ler­wei­le Unter­stüt­zung bei der Orga­ni­sa­ti­on bräuch­te.Und Malin und Nele? Malin hat sich gewünscht, dass auch Nele getauft wird. Damit sie, die Till nie ken­nen­ge­lernt hat, eben­falls mit ihrem Bru­der ver­bun­den ist. An Tills Todes­tag soll die Tau­fe statt­fin­den; denn obwohl kir­chen­fern und –kri­tisch, aner­ken­nen Ker­stin Bir­keland und Simon Acker­mann, dass es grös­se­re Zusam­men­hän­ge gibt, die ihnen als Erwach­se­nen viel­leicht ver­schlos­sen, den Kin­dern in ihrer Welt aber offen sind. Wenn man zuhört.www.herzensbilder.ch
Anne Burgmer
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