Unterschiede sind eine Quelle der Vitalität
Galaterbrief 1,13.17–18Ihr habt doch von meinem früheren Lebenswandel im Judentum gehört und wisst, wie masslos ich die Kirche Gottes verfolgte und zu vernichten suchte. (…) Ich ging auch nicht sogleich nach Jerusalem hinauf zu denen, die vor mir Apostel waren, sondern zog nach Arabien und kehrte dann wieder nach Damaskus zurück. Drei Jahre später ging ich nach Jerusalem hinauf, um Kephas kennenzulernen, und blieb fünfzehn Tage bei ihm. Einheitsübersetzung 2016 Unterschiede sind eine Quelle der Vitalität
Mein Professor an der Uni Freiburg war promovierter Theologe und Psychologe und zog jeweils den Vergleich, dass ein Lebewesen bis in seine kleinsten Nervenzellen aus unterschiedlichen Potenzialen bestehe. Er übertrug dieses Sinnbild auf das Leben generell und meinte, überall wo Potenziale, also auch Unterschiede und Ungleichheiten, aufgehoben würden, da erlösche Vitalität, ja da könne sogar das Leben selbst zum Stillstand kommen.Unterschiede werden oft als Bedrohung gesehen und wecken Ängste. In meinen Jahren in der Paar- und Familienberatung kamen viele Paare mit spannungsvollen Konflikten, die eine Zerreissprobe für die Beziehung darstellten. Es gelang ihnen nicht von selbst oder nicht auf Anhieb, mit den erlebten Unterschieden und Spannungen umzugehen, oder sie hatten es im Verlauf der Jahre verlernt. Oft waren gerade jene Verschiedenheiten, die am Anfang der Liebesbeziehung als anziehend, interessant und lustvoll empfunden wurden, im Laufe der Zeit zur Belastung geworden. Möglicherweise machen auch wir diese Erfahrung in unseren eigenen Beziehungen und Freundschaften. War da anfänglich die Faszination für das Andersartige, wurde dieses mit der Zeit zum Stolperstein oder bot als stetes Ärgernis gar Zündstoff für Konflikte.Petrus und Paulus, zwei bedeutende Männer des Christentums, hätten unterschiedlicher nicht sein können. Hier Petrus, der stämmige und vielleicht eher etwas «einfachere» Charakter eines Fischers, verheiratet, der nach dem Tod Jesu in der Jerusalemer Gemeinde eine führende Rolle übernahm, obwohl er in der Todesstunde Jesu diesen verleugnete, aus Angst, selbst dranzukommen. Auf der anderen Seite Paulus, der Jesus nie begegnete und zuerst ein Verfolger der Christengemeinde war, dann zum feurigen Bekenner und Missionar wurde, wortgewandt, vermutlich aus der Oberschicht stammend, als Jude mit römischem Bürgerrecht ausgestattet und privilegiert, überzeugt und überzeugend.Beide bezahlten, wir wissen es, am Schluss ihre Überzeugung und ihren Glauben mit dem Leben. Mehrfach sind sie sich begegnet und haben den Kontakt zueinander gesucht. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit ist es ihnen gelungen, den gemeinsamen Glauben allem voranzustellen. Der Theologe Thomas Söding kommt gar zum Schluss, dass das Christentum ohne diese Einigung bestenfalls als jüdische Splittergruppe überlebt hätte und dass es – zwar in Jesus Christus begründet – ohne Petrus und Paulus rein praktisch nicht vorstellbar gewesen wäre.Gegensätze müssen nicht bedrohlich sein, sondern sind – im richtigen Geist gelebt – eine Bereicherung und bieten Potenzial für mehr Lebendigkeit. Vielfalt fördert Vitalität und ist ein fundamentales Prinzip des Lebens, wenn es gelingt, sie als Potenzial zu akzeptieren und ins Leben zu integrieren.
Mathias Jäggi, Theologe und Sozialarbeiter, arbeitet als Berufsschullehrer