«Weder Mina­ret­te noch Nikabs ste­hen per se für Extremismus»

  • Die Volks­in­itia­ti­ve «Ja zum Ver­hül­lungs­ver­bot» ver­langt, dass in der Schweiz nie­mand mehr sein Gesicht ver­hül­len darf. Abge­stimmt wird am 7. März 2021.
  • Wird die Initia­ti­ve ange­nom­men, ist es ver­bo­ten, in der Schweiz das Gesicht an öffent­lich zugäng­li­chen Orten zu ver­hül­len. Im Blick haben die Initi­an­ten vor­wie­gend den Islam. 
  • Hori­zon­te hat mit Bern­hard Lind­ner von der Römisch-Katho­li­schen Kir­che im Aar­gau über die Not­wen­dig­keit einer sol­chen Mass­nah­me gespro­chen. Der Theo­lo­ge war jah­re­lang im inter­re­li­giö­sen Dia­log invol­viert. Noch immer ist er im Vor­stand der Christ­lich-Jüdi­schen Arbeits­ge­mein­schaft im Aargau.


Kom­men­tar 
von Andre­as C. Mül­ler

[esf_wordpressimage id=“23003”][/esf_wordpressimage]

Alle wich­ti­gen reli­giö­sen Ver­bän­de und Insti­tu­tio­nen spre­chen sich gegen das Bur­ka­ver­bot aus. War­um? Für mich gibt es nur eine ein­leuch­ten­de Erklä­rung: Schon jetzt stellt unser Recht Unter­drückung und Dis­kri­mi­nie­rung unter Stra­fe. Des Wei­te­ren wür­de mit Annah­me der Initia­ti­ve ein ehr­wür­di­ges recht­li­ches Anlie­gen zu unrecht auf dem Buckel des Rechts auf freie Reli­gi­ons­aus­übung aus­ge­tra­gen. Wir müs­sen von der Idee weg­kom­men, dass alles, was uns Angst macht, über Ein­schrän­kun­gen regle­men­tiert wer­den kann. Eine Frau, die gezwun­gen wird, sich zu ver­schlei­ern, wür­de auch im Fal­le eines Ver­hül­lungs­ver­bots wei­ter­hin dis­kri­mi­niert. Und demon­strie­ren­de Chao­ten, die sich auf­grund ihres Tuns ohne­hin in der Ille­ga­li­tät bewe­gen, dürf­ten sowie­so auf ein Ver­hül­lungs­ver­bot pfeifen. 

Herr Lind­ner, die Initia­ti­ve, über die wir am 7. März abstim­men, for­dert ein Ver­bot von reli­giö­ser Ver­hül­lung. Das pas­se nicht in unse­re Gesell­schaft. Wie beur­tei­len Sie das?
Bern­hard Lind­ner: Der Begriff «reli­giö­se Ver­hül­lung» taucht im Initia­tiv­text nicht auf. In Ver­öf­fent­li­chun­gen und auch auf Abstim­mungs­pla­ka­ten des Initia­tiv­ko­mi­tees wird aber deut­lich, dass es um die reli­giö­se Gesichts­ver­schleie­rung von mus­li­mi­schen Frau­en geht. Unse­re sich schnell wan­deln­de Gesell­schaft ver­un­si­chert Men­schen. Ob ein Ver­bot von Nikab und Bur­ka in der Öffent­lich­keit zu einem grös­se­ren Gefühl von Behei­ma­tung und Sicher­heit führt, bezwei­fe­le ich.

War­um erhitzt das The­ma «reli­giö­se Ver­hül­lung» immer wie­der die Gemü­ter? Wäre es anders, wenn es nicht um den Islam gin­ge?
Ver­mum­mung löst Angst aus, zum Bei­spiel bei Demon­stra­tio­nen oder im Umkreis von Sport­ver­an­stal­tun­gen. Das geht mir auch so. Mit den Bil­dern der Anschlä­ge auf die Twin-Towers in New York am 11. Sep­tem­ber 2001 hat sich die Bedro­hung durch isla­mi­sti­sche Ter­ro­ri­sten in unser aller Bewusst­sein gebrannt. Beson­ders unser Nach­bar­land Frank­reich sah sich immer wie­der mit furcht­ba­ren isla­mi­sti­schen Gewalt­ta­ten kon­fron­tiert. Jedoch die «reli­giö­se Ver­hül­lung» spiel­te bei all die­sen Anschlä­gen kei­ne Rol­le. Fest­zu­hal­ten ist: Weder Mina­ret­te noch Nikabs ste­hen per se für Extre­mis­mus, wie es auf Abstim­mungs­pla­ka­ten asso­zi­iert wur­de und wird. Die fünf Pro­zent der Schwei­zer Bevöl­ke­rung, die sich zum Islam beken­nen, sind fried­lie­ben­de Bür­ge­rin­nen und Bür­ger. Aus­nah­men gibt es natür­lich in allen Bevöl­ke­rungs­grup­pen.

Der Rat der Reli­gio­nen spricht von einer Ein­schrän­kung der Reli­gi­ons­frei­heit. Kann man das so sagen? In Got­tes­häu­sern und im Pri­va­ten wäre die Ver­hül­lung ja erlaubt. 
Die Frei­heit, mich so zu klei­den, wie es mir ent­spricht, gehört zu den ele­men­tar­sten Per­sön­lich­keits­rech­ten – genau­so wie das Recht auf ein eige­nes poli­ti­sches oder reli­giö­ses Bekennt­nis. Inso­fern gehört auch das Tra­gen von reli­gi­ös auf­ge­la­de­nen Klei­dungs­stücken und Acces­soires in der Öffent­lich­keit zu den Grund­rech­ten. Die­se dür­fen nur in Aus­nah­me­fäl­len und mit trif­ti­gen Grün­den ein­ge­schränkt wer­den.

[esf_wordpressimage id=“21785” width=“half” float=“right”][/esf_wordpressimage]

Als Exper­te für Inter­re­li­gio­si­tät wis­sen Sie ja viel über ande­re Reli­gio­nen. In wel­chen Reli­gio­nen haben wir denn noch Ver­hül­lungs­prak­ti­ken. Und wel­chem Zweck die­nen sie?
Klei­dung dient immer der Ver­hül­lung und spielt im mensch­li­chen Leben – und auch in allen Reli­gio­nen – eine wich­ti­ge Rol­le. Sie mar­kiert neben ihrer rei­nen Zweck­mäs­sig­keit einen bestimm­ten Berufs­tand, eine von der Per­son ein­ge­nom­me­ne Rol­le oder eine Lebens­form. In allen Reli­gio­nen tra­gen bei­spiels­wei­se Per­so­nen, die eine Zere­mo­nie lei­ten, ein beson­de­res Gewand, das ihre All­tags­klei­dung und auch ihren per­sön­li­chen Klei­der­ge­schmack ver­hüllt. In der Tra­di­ti­on hal­fen Klei­dungs­merk­ma­le auch, eine gemein­sa­me Lebens­ord­nung zu bewah­ren und respekt­lo­ses Ver­hal­ten zu ver­hin­dern. Dazu die­nen bei­spiels­wei­se Trau­er­klei­der, die Unter­schei­dung zwi­schen Trach­ten für Ver­hei­ra­te­te und Unver­hei­ra­te­te oder auch das Ordenskleid.

[esf_wordpressimage id=“30471” width=“half” float=“left”][/esf_wordpressimage]

Die Ver­hül­lung aus reli­giö­sen Grün­den trifft ja die Frau. Und im Fokus haben jene, die ein Ver­hül­lungs­ver­bot for­dern, den Islam. Sie sagen: Das ist Aus­druck der Unter­drückung der Frau. Stimmt das?
Ob das Tra­gen eines Gesichts­schlei­ers ein Aus­druck von Unter­drückung ist, müss­ten wir die cir­ca 30–40 Bur­ka- oder Nik­ab­trä­ge­rin­nen in der Schweiz selbst fra­gen. Ich ken­ne kei­ne per­sön­lich. Aber auch bereits das Kopf­tuch wird ja von man­chen als Zei­chen der Unter­drückung inter­pre­tiert. Ich ken­ne eine Rei­he jün­ge­rer Frau­en, die ihr Kopf­tuch ganz anders deu­ten: als Zei­chen der Frei­heit und Unab­hän­gig­keit, denn sie ent­zie­hen sich bewusst «anzüg­li­chen männ­li­chen Blicken». Ich fra­ge mich anders­her­um, ob ein Ver­hül­lungs­ver­bot wirk­lich zu einer «Frau­en-Befrei­ung» bei­tra­gen oder nicht eher zu mehr Dis­kri­mi­nie­rung von Frau­en füh­ren wür­de.

[esf_wordpressimage id=“30553” width=“half” float=“left”][/esf_wordpressimage]

Infol­ge der Coro­na-Pan­de­mie müs­sen wir ja alle unser Gesicht ver­hül­len. Wel­che Bedeu­tung hat das Ihrer Ansicht nach für die Debat­te um reli­giö­se Ver­hül­lung?
Noch vor einem Jahr wäre es mir nicht im Traum ein­ge­fal­len, mit einer Mas­ke eine Bank zu betre­ten. Ich woll­te ja nicht als Bank­räu­ber gel­ten. Die Mas­ken­pflicht wäh­rend der Coro­na­pan­de­mie hat dies völ­lig ver­än­dert. Es gibt Situa­tio­nen, in denen ich froh bin, wenn Men­schen Mas­ken tra­gen, bei­spiels­wei­se im öffent­li­chen Ver­kehr. Das öffent­li­che Mit­ein­an­der und Anein­an­der-vor­bei-Kom­men geht mit der Mas­ke über­ra­schend gut. Zur Bur­ka oder zum Nikab sehe ich da kei­nen Unterschied. 

Cornelia Suter
mehr zum Autor
nach
soben